| # taz.de -- Fernschach in Deutschland: Der Tod der Langsamkeit | |
| > Weil inzwischen alle mit Computer-Programmen spielen und elektronische | |
| > Nuancen statt menschliche Patzer entscheiden, büßte Fernschach seinen | |
| > Reiz ein. Ein halber Nachruf. | |
| Bild: Sind sich selten sehr nah: Fernschach-Spieler. | |
| Eine Randnotiz der Geschichte hat Fritz Baumbach mehr Aufmerksamkeit | |
| beschert als seine drei WM-Titel zusammen. Als der Ostberliner 1983 | |
| Vizeweltmeister im Fernschach wurde, "bekam ich nicht einmal eine Zeile von | |
| einem Sportverband - die DDR hatte schließlich genügend Weltmeister in | |
| allen olympischen Sportarten. | |
| Als ich 1988 den Titel eroberte, kürte man mich immerhin zum ,Verdienten | |
| Meister des Sports'", erinnert sich der 75-Jährige. Berühmt machte den | |
| Patentanwalt aber erst eine Bronzemedaille 1995! Es war die letzte für die | |
| DDR - viereinhalb Jahre nach dem Zusammenbruch des Arbeiter- und | |
| Bauernstaats, weil der Versand der Züge per Postkarte innerhalb des | |
| Ostblocks oft Monate gedauert hatte. | |
| "Der Rummel von damals ist nicht mehr zu übertreffen", sagt Baumbach, der | |
| heute nach 17 Jahren als Präsident des Deutschen Fernschachbundes (BdF) | |
| abtritt. Selbst Günther Jauch lud die Fernschach-Legende zu "Stern TV" ein. | |
| "Das war ganz nett", sagt der eloquente Buchautor, der mit einfallsreichen | |
| Sätzen wie "Staaten kommen und gehen - Schach bleibt" zu unterhalten weiß. | |
| Schließlich holte die sechsköpfige DDR-Auswahl nicht alleine den letzten | |
| Sieg für den Sozialismus: Die Sowjetunion wurde in dem 1987 begonnenen | |
| Wettbewerb Weltmeister, England sicherte sich Silber vor der DDR und der | |
| CSSR. "Drei von vier Staaten gab es nicht mehr." | |
| Das Talent aus Gera wurde mit einem Berliner Schachklub zwar im | |
| Turnierschach am Brett siebenmal DDR-Mannschaftsmeister und 1970 | |
| Einzelmeister. Mit 14 wuchs jedoch seine Passion fürs Fernschach. Den | |
| Unterschied weiß der fünffache Vater anschaulich zu erklären: "Nahschach | |
| ist wie eine Klassenarbeit, Fernschach entspricht dagegen eher einer | |
| Hausarbeit." Letztere liegt ihm als Wissenschaftler, der bis heute | |
| Arzneimittel patentiert, mehr. | |
| Zu Hause durfte man herumprobieren, sinnieren und Freunde hinzuziehen. Und | |
| Zeitdruck herrschte sowieso keiner. Drei Tage Bedenkzeit standen einem nach | |
| Erhalt der Postkarte zu - und vor der E-Mail-Ära, die auch vor Fernschach | |
| nicht Halt machte, kamen oft noch monatelange Postlaufzeiten im Ostblock | |
| hinzu, so die Postkarte überhaupt jemals ankam. | |
| Da ging es sogar vor Jahrhunderten schneller, als Städtekämpfe im Schach en | |
| vogue waren und Brieftauben die Züge den herrschaftlichen Klubs | |
| überbrachten. Erste Kämpfe sollen um 1650 zwischen venezianischen und | |
| serbischen Städten via Handelsschiffen stattgefunden haben. 1706 duellierte | |
| sich London und Paris auf den 64 Feldern. 1740 spielte Friedrich der Große | |
| über Kuriere angeblich mit Voltaire Schach. Die erste überlieferte Partie | |
| trugen 1804 Den Haag und Breda aus. Telegraf und Funk folgten im 19. und | |
| Anfang des 20. Jahrhunderts als fortgeschrittenere Korrespondenztechniken. | |
| Baumbachs Liebe hinter der Mauer gehörte wegen des Postverkehrs der nahezu | |
| unbekannten Denksport-Sparte. "Fernschach bot eine zusätzliche | |
| gesellschaftliche Komponente: Man bekam Kontakte zu fremden Kulturen, die | |
| sonst unmöglich blieben. Briefe aus dem Westen galten als etwas Besonderes. | |
| Und gelegentliche Päckchen, die mancher Gegner sandte, waren ein angenehmer | |
| Nebeneffekt", gesteht der promovierte Chemiker. | |
| Dass der Fernschach-Großmeister wie viele andere ins Visier der Stasi | |
| rückte, sieht der Familienvater gelassen. Die Züge auf den Postkarten | |
| werden in vierstelligen Zahlencodes notiert: Das Ausgangsfeld einer Figur | |
| gibt man in zwei Ziffern an (das Feld a 1 heißt 11), ebenso das Endfeld, | |
| etwa das obere rechte Eck h 8 (88). So löste ein harmloser Läuferzug wie | |
| "1188" bei übereifrigen Spitzeln häufiger Kopfzerbrechen aus. | |
| Amüsierter als an diese Anekdote denkt Baumbach an die wichtigste Partie | |
| seines Lebens zurück. "Ich warf meinen Zug gegen Gennadi Nesis am Abend in | |
| den Briefkasten ein. In der Nacht schreckte ich plötzlich auf und fragte | |
| mich verzweifelt, ob ich nach einem Springeropfer von ihm nicht sofort | |
| verliere. Ich sprang aus dem Bett und analysierte bis morgens um 6 Uhr am | |
| Brett die Folgen, kam aber zu keinem eindeutigen Ergebnis. Ich musste also | |
| die Postkarte zurückhaben! | |
| Die Briefkastenleerung erfolgte vor meiner Wohnung stets um 8 Uhr. Also | |
| postierte ich mich eine halbe Stunde vorher vor diesem und wartete auf den | |
| Postbeamten - mit einem Geldschein in der Tasche! Ich war zu allem bereit, | |
| auch zum Raub! Letztlich erbarmte sich der Postbeamte aber ohne | |
| Bestechung." In langen Analysen über Weihnachten stellte Baumbach fest, | |
| dass der Zug kein Fehler war, schickte diesen ein zweites Mal ab und schlug | |
| Nesis. Der Russe wurde so punktgleich hinter dem Ostdeutschen | |
| Vizeweltmeister. | |
| Weil inzwischen alle mit Computer-Programmen spielen und elektronische | |
| Nuancen statt menschliche Patzer entscheiden, büßte Fernschach seinen Reiz | |
| ein. Nur noch 18.000 spielen es weltweit. Direkt nach der Wende waren es | |
| allein im vereinigten Deutschland 10.000, von denen ein Viertel übrig | |
| blieb. | |
| Der scheidende BdF-Präsident freut sich über die zuletzt konstante Zahl und | |
| vergleicht den Wandel im Fernschach anhand der Vierschanzentournee: "Jens | |
| Weißflog gewann mit der alten herkömmlichen Flugtechnik und verlor durch | |
| den neuen V-Stil den Anschluss. Er kehrte zurück und siegte wieder bei der | |
| Vierschanzentournee. So ist es auch im Fernschach: Man musste die Technik | |
| umstellen. Fernschach wurde noch analytischer und wissenschaftlicher." Das | |
| will der Spitzenspieler auch wieder bei der aktuellen WM mit dem dritten | |
| gesamtdeutschen Titelgewinn beweisen. | |
| Wird Fernschach wie sein Heimatstaat dereinst einfach ausgelöscht? Baumbach | |
| siehts gelassen: "Nein, die DDR war von einem Tag auf den anderen weg. Bei | |
| uns wird das ein schleichender Prozess. Solange ich lebe, wird Fernschach | |
| noch gespielt. In 20 Jahren dürften die Programme aber so stark sein, dass | |
| der menschliche Einfluss marginal bleibt. Mit dem Ende rechne ich 2050." | |
| 30 Dec 2010 | |
| ## AUTOREN | |
| Hartmut Metz | |
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