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# taz.de -- Pamphlet wird in Frankreich zum Bestseller: "Indignez-vous!"
> "Empört euch", werdet engagiert und militant – ruft der 93 Jahre alte
> ehemalige Résistance-Kämpfer Stéphane Hessel seinen Mitbürgern zu. Sein
> Pamphlet wurde zum Bestseller.
Bild: "Empört Euch" – das kleine Heftchen ist in Frankreich zum Bestseller g…
Das knapp 30-seitige Opusculum liegt gleich neben der Kasse auf, wo es laut
Zeitungshändler auch noch am Jahresbeginn weggeht wie frische Brötchen.
Seit Wochen hält diese Nachfrage an. Mehr als 500.000 Exemplare von
Stéphane Hessels Entrüstungsfibel "Indignez-vous!" ("Empört euch!") sind in
Frankreich verkauft worden. Schon zehn Mal musste das kleine Pamphlet
nachgedruckt werden.
Der Autor ist am meisten überrascht darüber, mit seinen mittlerweile 93
Jahren noch zum Bestsellerautor zu werden. Er darf darin eine Würdigung
seines langjährigen Engagements für die Menschenrechte und humanitäre
Anliegen sehen. Ganz offensichtlich hat er mit seinem Appell gegen die
fatalistische Resignation und den Defätismus den Nerv vieler seiner
jüngeren Zeitgenossen getroffen.
Fast wie ein Neujahrswunsch mit guten Vorsätzen für 2011 klingt es, wenn
Hessel seine LeserInnen auffordert: "Ich wünsche allen, jedem und jeder
unter euch, dass ihr ein Motiv zur Empörung habt. Das ist wertvoll. Denn
wenn man sich über etwas empören kann, wie das bei mir mit dem
Nationalsozialismus der Fall war, dann wird man militant, stark und
engagiert." Sein Leben sei eine "lange Folge von Gründen zu Empörung"
gewesen. Stéphane Hessel kam 1917 in Berlin in einer zum Protestantismus
konvertierten jüdischen Familie auf die Welt, die wenige Jahre später nach
Frankreich emigrierte. Sein Vater, Franz Hessel, war mit Walter Benjamin
befreundet und arbeitete mit diesem an der Übersetzung von Proust. Er
selbst war noch vor dem Krieg Student von Jean-Paul Sartre, der ihm
beibrachte, dass jedes Individuum in seiner Entscheidung frei und
verantwortlich sei und sich im Namen dieser Verantwortung engagieren müsse.
Während des Kriegs schloss er sich in London General de Gaulles "France
libre" an.
Bei einer Mission für die Résistance wurde Hessel 1944 in Frankreich von
der Gestapo verhaftet und nach Buchenwald deportiert. Nach dem Krieg machte
er Karriere als Diplomat zuerst bei der UNO und als Botschafter Frankreichs
in mehreren Kapitalen. Seine Erfahrung aus der Widerstandsbewegung hat ihn
geprägt: "Für uns bedeutete Widerstand, die deutsche Besetzung und die
Niederlage nicht hinzunehmen." Das politische Programm, auf das sich die
verschiedenen Widerstandsorganisationen für die Nachkriegszeit einigten,
ist für Hessel noch heute mit seinen Grundwerten einer sozialen und
solidarischen Demokratie ein Fundament mit Errungenschaften, die er gegen
die "internationale Diktatur der Finanzmärkte" verteidigen will, welche die
Gegensätze und Unterschiede ständig vergrößere.
Allzu komplex
An Unerträglichem und Unakzeptablem mangelt es ihm zufolge wirklich nicht
in dieser zugegebenermaßen "allzu komplexen Welt" von heute. Den
Begriffsstutzigen hilft er mit ein paar aktuellen Stichworten auf die
Sprünge: die Behandlungen der Immigranten, der Sans-Papiers oder kürzlich
in Frankreich noch der Roma-Familien zum Beispiel.
Natürlich fehlt es nicht an Kritikern, die Hessels Appell herablassend als
naiven Sturm auf Windmühlen bezeichnen. Der Politologe Stéphane Rozès
beispielsweise kritisiert in Libération eine allzu folgenlose Form der
Auflehnung: "Die Empörung ist notwendig, aber nicht ausreichend. Die Gefahr
ist die, dass sich die Individuen zwar entrüsten, dann aber sich
abkapseln."
Andere werfen Hessel seinen Aufruf zum Boykott israelischer Produkte wegen
des Angriffs auf die Schiffe mit Hilfsgütern für Gaza vor. Zu diesem
Engagement für die Palästinenser aber steht er. Er betont dabei aber immer
wieder, dass er kategorisch für die Gewaltlosigkeit sei. Im Unterschied zu
seinem einstigen Lehrmeister Sartre meint er: "Die Gewalt ist ineffizient."
Diese Erkenntnis sei wichtiger, als darüber zu diskutieren, ob man jene
verurteilen müsse, die zur Gewalt greifen. Auch wenn man den Terrorismus
eine Form der Verzweiflung begreifen könne, sei dieser nicht zu
entschuldigen.
Wer in der Broschüre mehr als eine ethische Handlungsanleitung oder gar ein
Regierungsprogramm sucht, wird enttäuscht sein. Mit seinen 93 Jahren
beansprucht Hessel die Rolle des alten Weisen, der den Nachgeborenen rät,
sich "gegen den Massenkonsum, die Rücksichtslosigkeit gegenüber den
Schwächeren und der Kultur, den allgemeinen Gedächtnisschwund und den
ungebremsten Wettbewerb von jedem gegen jeden" zu empören. Widerstand ist
für ihn der Kern der Kreativität des 21. Jahrhunderts.
4 Jan 2011
## AUTOREN
Rudolf Balmer
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