| # taz.de -- Pflegebedarf: Deutschland schlecht gerüstet: "Der Bedarf wird ungl… | |
| > Die Herausforderungen bei der Organisation der Pflege sind so groß wie | |
| > bei der Bankenkrise, sagt der Experte Jürgen Gohde. 800.000 neue Plätze | |
| > in Pflegeheimen könnten benötigt werden. | |
| Bild: Jürgen Gohde: "Wir werden zunehmend auch auf technische Hilfen setzen m�… | |
| taz: Herr Gohde, der Bundesgesundheitsminister hat 2011 zum Jahr der Pflege | |
| ausgerufen. Pragmatismus oder Panikmache? | |
| Jürgen Gohde: Wenn 2011 ein gutes Jahr für die Pflege werden soll, brauchen | |
| wir eine gesellschaftliche Diskussion über einen demenzorientierten | |
| nationalen Aktionsplan für die Pflege. Wir werden das nur schaffen, wenn | |
| wir die Debatte nicht als ein Nischenthema der Gesundheitspolitik | |
| betrachten. Meine Sorge ist, dass bei solchen mottobehafteten Jahren genau | |
| dies passieren könnte. | |
| Welche Weichen müssen wir heute stellen, damit die Menschen in 20, 30 | |
| Jahren eine würdige Pflege erhalten? | |
| Jeder hat inzwischen verstanden, dass wir künftig wesentlich mehr Menschen | |
| haben werden, die mit einer Demenz älter werden. Das hat Konsequenzen für | |
| das Zusammenleben aller. Nur: Im Augenblick wird dieses Phänomen aus der | |
| gesellschaftlichen Diskussion noch weitgehend herausgehalten, weil so viele | |
| Menschen in den Familien gepflegt werden – also nicht sichtbar sind im | |
| gesellschaftlichen Alltag. Dieser Zustand wird sich nicht halten lassen. | |
| Wir müssen uns der sich ändernden Wirklichkeit stellen. Angesichts | |
| begrenzter Ressourcen werden wir das wachsende Pflegeproblem jedoch nicht | |
| allein lösen können über Arbeitsmigration aus dem Ausland. | |
| Sondern? | |
| Wir wissen, dass wir die Generation der heute 40- bis 50-Jährigen aus | |
| unserem eigenen Land in der Pflege brauchen. Wir müssen werben um das - | |
| auch freiwillige - Engagement auch der Menschen über 60. Sie sind deswegen | |
| so wichtig, weil sie Biografien verstehen können, weil sie wissen, was in | |
| einem alt gewordenen Menschen vorgeht. Der Freiwilligen-Survey zeigt schon | |
| jetzt, dass viele Menschen zwischen 55 und 65 Jahren bereit sind, sich | |
| sozial zu engagieren. Und auch die Altersgruppe der 65- bis 75-Jährigen, | |
| sofern sie selbst noch rüstig sind, ist dazu in steigendem Maße bereit. | |
| Alte pflegen Uralte, und ohne ehrenamtliches Engagement bricht das System | |
| zusammen? | |
| Das ist Realität in den Familien. Wir müssen alle vorhandenen Ressourcen | |
| intelligent bündeln. Wir werden zunehmend auch auf technische Hilfen setzen | |
| müssen. Beim Auto nutzen wir bereits völlig selbstverständlich alle | |
| elektronischen Möglichkeiten. Es wird auch in den Haushalten an dieser | |
| Stelle Veränderungen geben müssen. Keine technische Hilfe wird menschliche | |
| Zuwendung ersetzen können, sicher. Aber wir werden die entsprechenden | |
| unterstützenden Elemente, die Selbstständigkeit im Alter und Pflege in der | |
| Häuslichkeit fördern, nutzen und weiterentwickeln müssen, wenn wir nicht | |
| abhängig werden wollen von der Vorstellung, dass die Pflegekräfte für die | |
| älteren Menschen in unserem Land aus dem Ausland kommen. | |
| Was spricht gegen Pflegekräfte aus dem Ausland? | |
| Wir müssen die Probleme zunächst mit eigenen Ressourcen lösen. Die Japaner | |
| zum Beispiel haben mit entsprechenden Anwerbestrategien Schiffbruch | |
| erlitten – wegen der unterschiedlichen Kulturen, wegen der | |
| unterschiedlichen Sprachen. Unser Dilemma in Deutschland ist nicht nur, | |
| dass wir nicht genug Pflegekräfte haben, sondern dass wir zusätzlich gute | |
| Pflegekräfte ans Ausland verlieren – aufgrund unserer Rahmenbedingungen von | |
| Arbeit. | |
| Wie groß ist die Gefahr, dass das System kollabiert? | |
| Wir werden auch künftig stationäre Angebote brauchen. Aber wenn wir die | |
| heutigen Zahlen einfach linear fortschreiben würden für die stationäre | |
| Versorgung, also für den Bereich der Pflegeheime, dann müssten wir einen | |
| Bedarf prognostizieren, der bei 800.000 zusätzlichen Plätzen läge bis 2050. | |
| Das ist eine unglaublich hohe Zahl, die sich niemand vorstellen kann. | |
| Dieser Bedarf entsteht aber unter anderem deswegen, weil wir bislang nicht | |
| ausreichend über altengerechten, barrierefreien Wohnraum nachgedacht haben. | |
| Hier müssen wir aufholen. Wir brauchen Fahrstühle, wir brauchen | |
| altersgerechte Badezimmer, wir brauchen Zimmertüren, die breit genug für | |
| Rollstühle sind. Die Wohnungsgesellschaften sind großenteils bereit, diesen | |
| Prozess aktiv mitzugehen und die Quartiere neu zu gestalten. | |
| Zwangsläufig entwickeln wir uns zur Dorfgesellschaft zurück, wo jeder jedem | |
| hilft? | |
| Nicht unbedingt. Es geht um quartiersorientierte Angebote und Wohnformen, | |
| die Selbstbestimmung ermöglichen. Im Idealfall entstehen kleinräumige | |
| Arbeits- und Sozialmärkte, plötzlich gibt es auch wieder die Notwendigkeit | |
| für Geschäfte und Gesundheitsangebote im Nahbereich. Menschen mit Demenz | |
| und ihre Angehörigen sind darauf angewiesen. Die entscheidende Frage für | |
| die Systemrettung wird sein, ob uns dieser gesellschaftliche Umbau gelingt. | |
| Wie viel Zeit bleibt uns? | |
| Zehn Jahre. Bis dahin müssen die Weichen gestellt sein. | |
| Wovon werden wir uns in jedem Fall verabschieden müssen? | |
| Die bisherige Pflegeversicherung ist eine stark medizinisch-somatisch | |
| ausgerichtete, sie ist aus der Krankenversicherung heraus entstanden. Ihre | |
| Verrichtungsorientierung, Stichwort Minutenpflege, wird als ungerecht | |
| empfunden und bringt große Probleme. Das Problem ist: Zurzeit reicht das | |
| Geld für die somatische Orientierung, nicht aber für die | |
| psychisch-kognitiven Einschränkungen. Pflege, die menschenwürdig ist, muss | |
| aber eine ganzheitliche Orientierung haben. Deswegen sage ich: Jeder, der | |
| bei einer wirklichen Reform in der Pflege etwas erreichen will, muss sich | |
| messen lassen an den Vorschlägen, die er für die Versorgung für die | |
| Menschen mit Demenz macht. Man kann das Problem nicht länger privatisieren. | |
| Sind die bevorstehenden Herausforderungen und Anstrengungen zur Abwendung | |
| des Pflegenotstands vergleichbar mit denen zur, sagen wir, Rettung der | |
| Banken in der Krise? | |
| Ich will solche dramatischen Vergleiche nicht fördern, aber, ja: Es geht um | |
| den Gesellschaftsvertrag für die nächsten 20 Jahre. | |
| Die Basis für einen solchen Gesellschaftsvertrag muss ein neuer | |
| Pflegebedürftigkeitsbegriff sein. Die Regierung legt sich hierzu aber nicht | |
| fest. | |
| Der Pflegebedürftigkeitsbegriff ist längst definiert! Wissenschaftlich ist | |
| er ganz eindeutig definiert, das kann jeder nachlesen im Bericht des | |
| Pflegebeirats der Bundesregierung, den ich vor nunmehr eineinhalb Jahren | |
| als Beiratsvorsitzender im Auftrag der damaligen großen Koalition vorgelegt | |
| habe. Leider ist seither wenig passiert. Der neue | |
| Pflegebedürftigkeitsbegriff geht nicht nur von den Defiziten aus, sondern | |
| stärker von den Ressourcen und den Zielen. Die Selbständigkeit muss | |
| gefördert und der Pflegebedürftige ganzheitlich gesehen werden. Was wir | |
| jetzt brauchen, ist eine juristisch saubere Legaldefinition, die diese | |
| Kriterien endlich berücksichtigt. Derzeit erleben wir eine Diskrepanz | |
| zwischen einem Begriff und einem Leistungsrecht, die nicht zueinander | |
| passen. | |
| Wenn alles so klar ist: Warum wiederholt der Gesundheitsminister dann | |
| gebetsmühlenartig, der Pflegebedürftigkeitsbegriff sei neu zu definieren? | |
| Der Minister hat mir zweimal in Gesprächen gesagt, dass der | |
| Pflegebedürftigkeitsbegriff umgesetzt wird. Darauf vertraue ich. Es kann | |
| hier kein Neuanfang gemacht werden. Die Pflegeversicherung eignet sich | |
| nicht für parteipolitischen Streit. | |
| Wird es künftig Leistungseinschränkungen geben? | |
| Die finanziellen Möglichkeiten sind begrenzt. Folglich werden wir einen | |
| Hilfemix, also das Zusammenwirken von ehrenamtlichen, von | |
| nachbarschaftlichen, von genossenschaftlichen und von professionellen | |
| Strukturen fördern müssen. Wir sind künftig auf zweierlei angewiesen: dass | |
| es gelingt, die Grenze zwischen der ambulanten und der stationären | |
| Versorgung durchlässiger zu machen. Und dass es gelingt, Menschen auch in | |
| der häuslichen Versorgung zu einer selbständigen, würdevollen Phase ihres | |
| Lebens zu verhelfen. Ich bin da optimistisch: Die Pflegeversicherung ist | |
| ein lernendes System. | |
| Die schwarz-gelbe Regierung will eine zusätzliche, kapitalgedeckte Säule in | |
| der Pflegeversicherung verpflichtend einführen, um den steigenden Ausgaben | |
| zu begegnen. Ist das gerecht? | |
| Der Beirat zur Überprüfung des Pflegebedürftigkeitsbegriffs hat klar | |
| gesagt, dass er die solidarische Orientierung in der Finanzierung für | |
| notwendig hält. Dazu stehe ich. Wenn das Ministerium das anders sieht, dann | |
| ist es in der Pflicht zu sagen, wie eine kapitalgedeckte Zusatzversicherung | |
| aussehen soll. | |
| Was ist Ihr Gegenmodell? | |
| Die Pflegeversicherung ist seit je eine Versicherung mit gleichen | |
| Leistungen für alle Bürger. Sie lebt aus dem Grundsatz der | |
| Eigenverantwortung und einer verlässlichen Solidarität. Diese Orientierung | |
| brauchen wir weiterhin. Künftig aber werden wir Verknüpfungen | |
| unterschiedlicher Finanzierungssysteme brauchen, und wir werden darüber | |
| eine breite Diskussion führen müssen. | |
| Im derzeitigen System ist die Pflegeversicherung eine | |
| Teilkaskoversicherung. Bis wohin darf die Eigenbeteiligung steigen? | |
| Wir müssen die Zumutbarkeitsgrenzen definieren. Der Renten-Verlauf in den | |
| nächsten 15 Jahren wird rückläufig sein, das ist aufgrund der | |
| Rentengesetzgebung zwingend. Gleichzeitig haben wir einen zunehmenden | |
| Anteil von Menschen mit unterbrochenen Erwerbsbiografien. Das heißt, es | |
| wird immer um einen hohen Steuerzuschuss und einen eigenen Beitrag gehen. | |
| Wir müssen darauf achten, dass die Balancen stimmen. | |
| 4 Jan 2011 | |
| ## AUTOREN | |
| Heike Haarhoff | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA |