# taz.de -- Schulerfolg mit Brokkoli: Die Spielfreudigen | |
> Kunst statt Mathe: Wie eine Berliner Schule ihren Schülern durch | |
> Theaterunterricht auf die Sprünge helfen will - in dem von ihnen etwas | |
> gefordert wird, was sie können. | |
Bild: Womit wird eine Pizza belegt? | |
BERLIN taz | "Brokkoli?", fragen die Jugendlichen. Aufgeregt stehen elf | |
Zwölf- bis Vierzehnjährige im Berliner Theater "Hebbel am Ufer" (Hau) | |
zwischen Grünkohl und Ringelblumen, Thymian und Rosmarin. Für zwei Wochen | |
hat sich das Theater in eine fantastische, dschungelartige | |
Garteninstallation verwandelt. Gleich sollen die Jugendlichen Kräuter | |
ernten für die Küche des Theaters. Auf die Frage, mit welchen Kräutern man | |
eine Pizza belegen könne, fallen ihnen keine ein. "Brokkoli? Margherita? | |
Salami?" Die Jugendlichen sind Siebtklässler aus der benachbarten | |
Hector-Peterson-Oberschule in Berlin-Kreuzberg. | |
"Ich gehe so oft wie möglich mit ihnen raus", sagt ihre Lehrerin Benita | |
Bandow. "Im normalen Unterricht lernen sie doch fast nichts." Der Besuch im | |
Theatergarten ist für die Schüler eine Wunderstunde, jede Woche aufs Neue, | |
auch ohne Garten. Denn jeden Montag kommen sie für zweieinhalb Stunden | |
hierher, manchmal auch öfter. Fünf von insgesamt dreißig Unterrichtsstunden | |
haben sie das Fach "Darstellendes Spiel". | |
An diesem Montag gehört ein kleiner Vortrag der Kuratorin Stefanie Wenner | |
dazu. Kurz erzählt sie den Schülern etwas über das - intellektuell recht | |
anspruchsvolle - "Zellen"-Festival im Hebbel-Theater, von dem die | |
Garteninstallation ein Teil ist. Es geht um Gemeinschaft, erklärt Wenner | |
den Schülern. "Ihr seid in der Klasse eine Gemeinschaft", sagt sie, "die | |
Schule ist eine größere Gemeinschaft, dann gibt es den Kiez, die Stadt, den | |
Staat." Aber wie funktioniert Gemeinschaft überhaupt? Wo nimmt man selber | |
daran teil? Es gibt ja auch immer wieder Konflikte. Manche Leute sind | |
stärker als andere. Wie kommt das zustande? Am Anfang sitzen die | |
Jugendlichen gelangweilt da, aber je länger Stefanie Wenner redet, desto | |
aufmerksamer hören sie zu. Das, was sie sagt, das geht sie etwas an. Gut | |
gelaunt sammeln sie dann, nachdem auch die Kräuterfrage geklärt ist, | |
Thymian und Rosmarin und machen Jagd auf Nacktschnecken im Salat. Stolz | |
bringen sie zum Schluss vier Papiertüten gefüllt mit Kräutern ins | |
Theaterrestaurant. | |
Oberflächlich betrachtet mag das wöchentliche Eintauchen in die Theaterwelt | |
in die Rubrik Freizeit und Vergnügen gehören, aber die Schule verspricht | |
sich von diesen Aktivitäten ziemlich viel für ihre Schüler: mehr | |
Konzentrationsfähigkeit, mehr Neugierde und, vor allem, mehr | |
Selbstbewusstsein. Mehr Vorstellung davon, dass es beim Lernen um Dinge | |
geht, die einen selbst etwas angehen. Das Wissen Türen öffnen, dass es Spaß | |
machen kann - und nicht eine unaufhörliche Aneinanderreihung von | |
Misserfolgen und Demütigung sein muss. Denn so haben es fast alle Schüler, | |
die an diesem Nachmittag hier sind, bislang erlebt. Sie sind vergnügte, | |
schnell aufgeregte Teenager. Aber sobald etwas von ihnen gefordert wird, | |
wirken sie wie paralysiert. | |
In Berlin sind Oberschulen integrierte Haupt- und Realschulen, die von der | |
siebten bis zur zehnten Klasse laufen (seit diesem Schuljahr heißen sie | |
Integrierte Sekundarstufen). Je nach Stadtteil fällt die soziale | |
Zusammensetzung dieser Schulen höchst unterschiedlich aus. An der | |
Hector-Peterson-Oberschule haben 93 Prozent der Schüler einen | |
Migrationshintergrund, fast ebenso viele kommen aus Hartz-IV-Familien. Wer | |
an so einer Schule gelandet ist, der gilt bereits als Verlierer. Die | |
Jugendlichen selbst sehen das auch so. | |
Im vergangenen Sommer haben sie eine Umfrage zur Schule unter den Schülern | |
durchgeführt. Die meisten fanden die Hector-Peterson-Schule gut, sie | |
mochten die Lehrer, fühlten sich aufgehoben. Ihre kleinen Geschwister aber | |
würden sie, wenn sie darüber entscheiden könnten, trotzdem nicht hierher | |
schicken. "Hier sind zu viele Ausländer", lautete die Begründung. "Das ist | |
absurd", sagt Schulleiter Dietmar Pagel. "Die Kinder kommen meist aus | |
türkischen oder arabischen Einwandererfamilien, aber sie sind doch keine | |
Ausländer. Aber sie verstehen sich so, und sie empfinden das selbst als | |
etwas Negatives." | |
Schülern in Berliner Randbezirken wie Hellersdorf, die zwar keinen | |
Migrations-, aber einen ähnlichen sozialen Hintergrund haben, das ist Pagel | |
wichtig, wird es in vielem ähnlich gehen. Aber wie sie das drehen, wodurch | |
die Schüler ihre multikulturelle Identität als etwas Positives erleben | |
könnten, das ist eine der wichtigen Fragen, mit der sich die Lehrer an | |
seiner Schule beschäftigen. Seit diesem Schuljahr lautet ihre Antwort | |
darauf: weniger Mathe, Deutsch und Englisch und dafür mehr Darstellendes | |
Spiel, Kunst oder Musik. Der Unterricht wird gemeinsam mit Partnern von | |
außen gestaltet, damit die Schüler möglichst viel aus der Schule heraus- | |
und in andere Welten hineinkommen. | |
Seit der ersten Pisa-Studie aus dem Jahr 2000 ist bekannt, wie sehr in | |
Deutschland der Bildungserfolg von der sozialen Herkunft abhängt. Wie viel | |
die Qualität einer Schule bewirken kann, zeigte die letzte Studie. Bis zu | |
100 Pisa-Punkte Abstand kann der Leistungsabstand zwischen Schülern aus | |
sozial schwachen Familien betragen - je nachdem, ob sie auf einer guten | |
oder einer weniger guten Schule gelandet sind. 100 Pisa-Punkte, das ist ein | |
Abstand von über zwei Schuljahren. Die wichtigsten Weichen für den | |
Bildungserfolg, das steht außer Frage, werden in der Grundschule gestellt. | |
Die Situation an einer Oberschule wie der Hector-Peterson-Schule ist | |
ungleich schwerer. Deswegen werden sie ihr Loser-Image auch kaum los. | |
"Unterricht an einer Schule wie dieser, das heißt, die Geduld aufzubringen, | |
jeden Tag das Gleiche zu sagen, wieder und wieder", sagt Benita Bandow, die | |
Lehrerin. "Wer hier seinen Fachunterricht machen will, der befindet sich | |
auf verlorenem Posten." Mehr als um Inhalte geht es um Dinge wie | |
Aufmerksamkeit, Zuwendung, Respekt. "Die Schule hat sich für die | |
künstlerische Ausrichtung entschieden", sagt Bandow, "weil dies anders als | |
bei Mathe oder Deutsch etwas von den Schülern fordert, was sie können. Denn | |
tanzen oder singen, malen oder schauspielern, das kann fast jeder von | |
ihnen." | |
Seit über fünf Jahren arbeitet die Hector-Peterson-Schule mit dem | |
benachbarten Hau zusammen. Zunächst im Rahmen von TUSCH, einer | |
Organisation, die Partnerschaften zwischen Theatern und Schulen in Berlin | |
fördert. Weil das auf drei Jahre befristet war und die gemeinsame Arbeit so | |
gut lief, machten die Benita Bandow und die Theaterdramaturgin Mijke | |
Harmsen einfach weiter. Am Ende gab es der ganzen Schule den Schub in die | |
neue Richtung. | |
Veränderungen an Schulen gehen langsam vonstatten; was und wie viel man mit | |
der künstlerischen Ausrichtung bewirken kann, wird man frühestens in fünf | |
bis sechs Jahren wissen. Auf Dauer, so hofft Direktor Pagel, wird das | |
Malen, Schauspielern und Musizieren den Schülern nicht nur viel Freude | |
machen, sondern auch zu besseren Deutsch- oder Mathekenntnissen führen. | |
Trotz weniger Fachstunden. Denn auch wenn dem Lernvermögen der meisten | |
klare Grenzen gesteckt sind, das fehlende Selbstbewusstsein ist das größte | |
Lernhemmnis. | |
Beim wöchentlichen Workshop im Hau bringt Mijke Harmsen am nächsten Montag | |
den Jugendlichen Jacques Offenbachs Oper "Hoffmanns Erzählungen" auf kluge | |
und ziemlich charmante Weise näher. "Die Geschichte ist kompliziert", sagt | |
sie. "Wir machen das Stück für Stück. Am Anfang der Geschichte sind wir | |
alle in einer Kneipe." Sie hat die Gesichter der Figuren aufgemalt. Statt | |
viel zu erzählen, gibt sie nur ein paar Stichworte vor und lädt die Schüler | |
ein, dazu die Handlung zu improvisieren. "Ich, ich", ruft Orkan*, als die | |
erste Rolle vergeben wird, und noch mal "ich" bei der zweiten. Er ist ein | |
hübscher, sympathisch wirkender Junge. Aber in sein Gesicht hat sich schon | |
etwas eingeschrieben von der Enttäuschung über sich selbst. Eigentlich ist | |
er eher ein Anführertyp, nur einer, der sich nichts zutraut. Den Rest der | |
Zeit lümmelt er gelangweilt am Boden. Als er dann doch etwas spielen soll, | |
hält er sich ein Blatt vor das Gesicht. "Ich kann das nicht", sagt er | |
verzweifelt. Als die anderen sich vorher mit Feuereifer in ihre Rollen | |
stürzten, als der kleine Ibrahim zur Begeisterung aller sogar ein kleines | |
Liebeslied improvisierte, flüsterte er mehrfach: "Schämt ihr euch denn | |
nicht?" | |
"Misserfolgsorientierung" nennt dies der Schulleiter. Für die Schüler heißt | |
das: lieber misstrauisch beobachten, keine Neugier zulassen, nicht selbst | |
aktiv werden. Pagel und sein Kollegium haben damit täglich zu tun. Denn die | |
Jugendlichen halten nicht nur die Anstrengungen des Lernens, die | |
Frustration, das Wiederholenmüssen schwer aus. Ihre Verunsicherung agieren | |
sie aus, indem sie sich gegenseitig auf das gleiche niedrige Niveau | |
herunterzuziehen. Im Theaterunterricht klappt das oft nicht. Dazu macht es | |
den meisten zu viel Spaß - und manchmal macht es sie richtig glücklich. | |
Wie an diesem Montagnachmittag die zwölfjährige Maissa. Kleine Rolle, | |
großer Auftritt. Aufgeweckt und mit roten Backen rekapituliert sie jeden | |
Akt. Während sich die meisten anderen am Ende nur noch rudimentär an all | |
die Frauen erinnern können, die dieser komische Hoffmann liebt, und an alle | |
Tricks, mit denen der Teufel sein Glück verhindert, fasst sie souverän die | |
gesamte Handlung zusammen. Weiß jeden Namen, jede Wendung. Nie käme man | |
darauf, dass sie weder richtig schreiben noch rechnen kann und als | |
sonderpädagogisch förderbedürftig gilt. Am Ende mag sie gar nicht gehen. | |
"Das war großartig, Maissa", sagt Benita Bandow, "dafür bekommst du eine | |
Eins." | |
* Name geändert | |
10 Jan 2011 | |
## AUTOREN | |
Michaela Schlagenwerth | |
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