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# taz.de -- Mehrgenerationenhaus für Homosexuelle: Eine neue Generation Familie
> In Charlottenburg beginnen heute offiziell die Arbeiten am ersten Mehr-
> generationenhaus Europas für Homosexuelle. Dafür wird die Kita "Haus der
> Familie" umgebaut.
Der Schriftzug "Kindertagesstätte" ist schon hinter dem Baugerüst
verschwunden, und auch am Briefkasten steht ein großer Aufkleber
"Nachsendeauftrag ist gestellt". Das Haus in der Niebuhrstraße 59/60 in
Charlottenburg bereitet sich vor auf den Generationenwechsel: Seit Ende der
50er Jahre spielten dort Kinder, ab Frühjahr kommendes Jahres kommen auch
Senioren im Haus unter. Schwule ältere Männer sind die Zielgruppe. Aber
auch junge Schwule und Lesben jeden Alters und sogar heterosexuelle Männer
sind eingeladen, an dem Projekt namens "Lebensort Vielfalt" teilzuhaben,
das nicht weniger vorgibt, als das erste homosexuelle Mehrgenerationenhaus
Europas zu werden.
Bernd Gaiser steht da, wo in einem Jahr ein Aufzug sein soll. Der
Mietersprecher ist ein schmaler Mann in Jeans und dunklem Pullover, mit
kurzem weißem Stoppelhaar und runder Brille. 65 Jahre alt ist Gaiser,
gelernter Buchhändler, nun Rentner, und schwul. "Ich bin ein
vorausschauender Typ. Daher möchte ich jetzt schon regeln, wie und wo ich
im Alter leben werde", meint er. Seit 1977 wohnt er in Berlin auf 200
Quadratmetern in einer WG mit zwei schwulen Männern. Im kommenden Jahr wird
die Wohngemeinschaft aufgelöst; seine Mitbewohner ziehen in ein Häuschen
nach Brandenburg, Gaiser in eine 50-Quadratmeter-Wohnung in der
Niebuhrstraße.
Große Nachfrage
Die Idee für das homosexuelle Mehrgenerationenhaus entstand vor fünf Jahren
in einem Gesprächskreis für ältere Schwule in der Berliner
Schwulenberatung, die sich schnell selbst für das Projekt interessierte -
heute ist sie Bauherr und verantwortlich für den "Lebensort Vielfalt".
Schon kurz darauf begann die Suche nach einem passenden Objekt; vor drei
Jahren stieß man auf das ehemalige "Haus der Familie" des Bezirks
Charlottenburg-Wilmersdorf. 2,2 Millionen Euro hat die Immobilie gekostet,
der nötige Umbau wird weitere 3 Millionen verschlingen. Von der Stiftung
Deutsche Klassenlotterie Berlin kommen 2,7 Millionen Euro, der Rest stammt
aus einem Kredit von der Kreditanstalt für Wiederaufbau. Das Grundstück
bleibt im Besitz des Bezirks, der mit der Schwulenberatung einen
Erbbaurechtsvertrag abgeschlossen hat. "Ein weiteres Projekt dieser
Größenordnung werden wir in absehbarer Zeit nicht mehr stemmen können,
trotz der großen Nachfrage nach Plätzen", meint Gaiser.
24 Wohnungen unterschiedlicher Größe sollen in den oberen drei Etagen des
30er-Jahre-Baus entstehen. Im zweiten Stock sollen acht Menschen gemeinsam
in einer Demenz-WG leben, jeder in einem eigenen Zimmer, rund um die Uhr
betreut durch einen Pflegedienst. Erdgeschoss und erster Stock sind als das
neue Domizil der Schwulenberatung vorgesehen. "Wir wollen einen Ort der
Begegnung schaffen, eine aktive Gemeinschaft vor allem, aber eben nicht nur
älterer Schwuler", erklärt Gaiser.
Als ehrenamtlicher Mitarbeiter des Mobilen Salons der Berliner
Schwulenberatung besucht er seit acht Jahren alte schwule und bisexuelle
Männer zu Hause und begleitet sie auch mal zu einem Theaterbesuch. "Es gibt
diese Altersgrenze, jenseits der man in der schwulen Szene einfach nicht
mehr wahrgenommen wird", meint er. "Die meisten Alten leben völlig
isoliert. Bei mir soll das anders werden."
Gute Nachbarschaft
Als Grund für das Einsiedlerleben vieler älter Homosexueller hat Gaiser
deren Aufwachsen in Zeiten größter Diskriminierung ausgemacht. "Wer in den
50ern oder sogar noch während des Dritten Reichs groß geworden ist, der hat
die Angst, sich in der Öffentlichkeit als schwul zu outen, zu sehr
verinnerlicht." Daher lebten viele Alte zurückgezogen und mit wenig Kontakt
zur Außenwelt. "Diesen Menschen möchten wir mit unserem
Mehrgenerationenhaus die Chance geben, wieder Anschluss zu finden." Wichtig
sei dabei jedoch, dass auch Frauen und junge Menschen unter den Bewohnern
seien und das Haus sich gut in die Nachbarschaft einfüge. "Eine
Ghettoisierung versuchen wir so zu verhindern."
Eine der fünf Frauen, die in das Haus mit einziehen werden, ist Gabriele
Wicke. Die 65-Jährige trägt eine bunt geringelte Wollmütze über ihren
kurzen braunen Locken und geht am Stock durch den großen Saal im
Erdgeschoss des Hauses. Als es das "Haus der Familie" war, fanden hier
Veranstaltungen statt; an der Decke sind noch die Aufhängungen für
Scheinwerfer befestigt. Bis zum Frühjahr 2012 soll in dem Raum ein Café
entstehen, als Treffpunkt der Bewohner mit Besuchern der Schwulenberatung
und allen, die den Weg in die Niebuhrstraße finden. Der "Wilde Oscar" wird
es heißen, in Erinnerung an den schwulen irischen Schriftsteller Oscar
Wilde.
"Eigentlich war ich auf der Suche nach einem Wohnprojekt für ältere Lesben.
Aber dann bin ich durch Zufall an die Gruppe um Bernd Gaiser geraten",
erzählt sie. Die Männer hätten sie so freundlich aufgenommen, dass sie sich
recht schnell dafür entschieden habe, mit ihnen in das Mehrgenerationenhaus
zu ziehen. Bislang wohnt sie allein in einer Zweizimmerwohnung in
Wilmersdorf. "Ich freue mich, bald mit so netten Leuten das Haus zu
teilen."
Wicke ist gelernte Krankenschwester und hat später als Erzieherin
gearbeitet. Nach Ostberlin kam sie mit neun Jahren; lange hat sie als Kind
aus einer Pfarrersfamilie mit vielen Geschwistern ihre sexuelle
Orientierung verheimlicht. "Mein Coming-out hatte ich erst mit 29, und auch
danach habe ich nicht jedem auf die Nase gebunden, dass ich eine Lesbe
bin", meint sie. "Das geht ja auch nicht jeden etwas an."
Eine Generationenfrage
Ihr zukünftiger Nachbar Gaiser berichtet genau Gegenteiliges: "Für mich war
es immer wichtig und Teil der gesellschaftlichen Gegenbewegung, offen zu
zeigen, dass ich schwul bin. Ob bei der Arbeit oder in meiner Freizeit - es
war immer Thema." Dieser unterschiedliche Umgang mit der sexuellen
Orientierung sei jedoch symptomatisch für seine Generation. Jüngere
Homosexuelle seien viel selbstbewusster und definierten sich weniger stark
über ihre Sexualität. "Es kann gut sein, dass für sie später ein Haus
explizit für ältere schwule Männer gar nicht mehr nötig ist, weil sie sich
genug integriert fühlen."
Die meisten Wohnungen des Mehrgenerationenhauses sind mittlerweile vergeben
- an 25 Männer und 5 Frauen zwischen 55 und 82 Jahren. "Jetzt suchen wir
noch fünf jüngere Mieter zwischen 35 und 55", sagt Gaiser. Ob das
Zusammenleben mit älteren Schwulen jedoch für diese Generation interessant
sei, müsse man abwarten.
Bislang blieben die Altersgruppen innerhalb der schwulen Szene meist unter
sich; diese Grenzen aufzubrechen sei mit ein Ziel des
Mehrgenerationenhauses. "Wir können unsere Lebenserfahrung sowie das Leben
in einem kulturellen Zentrum anbieten." Die Warteliste sei mittlerweile 180
Bewerber lang, darunter seien sicher auch Menschen unter 55, glaubt Gaiser.
Die acht Plätze in der Demenz-WG würden erst kurz vor Einzug vergeben.
Balkon und Südblick
Die Wohnungen sind barrierefrei, mit Balkon und Blick gen Süden auf den
Garten. Zusätzlich gibt es Gemeinschaftsbalkone. Mit 11 Euro pro
Quadratmeter warm liegt der Mietpreis etwas über dem Mietspiegel der
Gegend.
Schon jetzt veranstalten die künftigen Mieter gemeinsam Wochenendreisen und
Theaterausflüge. "Wir wachsen als Gruppe zusammen und können so schon jetzt
sehen, ob es funktioniert", berichtet Wicke. Denn auch wenn jeder seine
eigene Wohnung habe, sei eine harmonische Gemeinschaft wichtig für das
Gelingen des Projektes. "Nur wenn ich mich wohl fühle, habe ich keine
Hemmungen, auch mal um Hilfe zu bitten. Und das wird mit zunehmendem Alter
immer wichtiger."
Dennoch ist es Gaiser wichtig klarzustellen, dass es sich nicht um
betreutes Wohnen handle. "Wir werden uns hier nicht gegenseitig pflegen."
Wer Hilfe bräuchte, könne aber jederzeit einen ambulanten Pflegedienst in
Anspruch nehmen. "Man soll bis zum Ende seiner Tage bei uns wohnen bleiben
können."
18 Jan 2011
## AUTOREN
Juliane Wiedemeier
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