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# taz.de -- Buch über Film über Konzentrationslager: Die Erinnerungsdeponie
> Ein Buch von Sylvie Lindeperg befasst sich mit dem Dokumentarfilm "Nacht
> und Nebel" (1956). Damals setzte die Forschung zu den
> Konzentrationslagern gerade ein.
Bild: Isolationszelle in Auschwitz.
Als 1956 der halbstündige französische Dokumentarfilm "Nacht und Nebel" von
Alain Resnais schockierende Bilder über das KZ-System im
Nationalsozialismus zeigte, brachte er auch eine Zahl in Umlauf, die sich
später als nicht korrekt erwies. Dass Auschwitz in dem Sprechkommentar als
eine "Landschaft von neun Millionen Toten" bezeichnet wurde, zeugt von den
vielen Unsicherheiten, von denen das Wissen über die Opfer der
Vernichtungspolitik damals noch umgeben war.
Wie kann es also kommen, dass ein Film, der in großen Teilen auf noch
ungenügender historischer Forschung beruht, der Bilder falsch zuordnet und
das besondere Schicksal der Juden nur am Rande in den Blick nimmt, der also
im Grunde zu früh kam, bis heute eines der wirkmächtigsten Monumente der
Geschichtspolitik und der sogenannten Vergangenheitsbewältigung werden
konnte? Den besonderen Rang von "Nacht und Nebel" dokumentiert zum Beispiel
der Umstand, dass noch in Christian Petzolds "Die innere Sicherheit" (2001)
das von Julia Hummer gespielte Mädchen Jeanne in eine Schule kommt, in der
im Unterricht eben dieser Film gezeigt wird, der mit einem sehr allgemeinen
moralischen Appell am Ende viele von den Unzulänglichkeiten im Detail zu
kompensieren versucht, deren sich schon die Macher Mitte der 1950er Jahre
nur zu bewusst waren.
Das eben ins Deutsche übersetzte Buch "Nacht und Nebel. Ein Film in der
Geschichte" von Sylvie Lindeperg gibt auf diese Fragen gründliche
Antworten. Im Lauf der Lektüre wird deutlich, dass es eine objektive
Wahrheit über die Opfer der Lager auch dann nicht geben kann, wenn man
wenigstens die Zahl von neun Millionen Toten insofern präzisiert, als sechs
Millionen davon Juden waren. Diese sechs Millionen sind im Lauf der Jahre
zu einer Größe geworden, die einerseits das enorme Ausmaß des Tötens
zwischen Kulmhof und Auschwitz einigermaßen genau beziffert (und diese
Ziffer steht auch für vernünftige Menschen als Größenordnung außer Streit),
andererseits aber auf die Schwierigkeiten jeder Darstellung, jeder
Repräsentation dieses Tötens verweist.
Dazu kommt nun, und das vor allem zeigt Sylvie Lindeperg eindrucksvoll auf,
dass die Erinnerung an die Lager nach 1945 sofort unter den Druck
unterschiedlichster Interessen geriet, von denen schon allein die
französischen komplex genug waren. "Nacht und Nebel" wurde von Verbänden in
Auftrag gegeben, denen vor allem an der Perspektive der aus Frankreich
Deportierten gelegen war, und damit auch an einer Darstellung des
Widerstands, auf den sich eine neue nationale Identität gründen ließ. Dazu
kamen die französischen "Handelsinteressen" mit Adenauer-Deutschland, das
in seiner Westbindung geringes Interesse hatte, an das System erinnert zu
werden, aus dessen Untergang es hervorging.
Für Sylvie Lindeperg ist es vor allem eine der historischen
Beraterpersönlichkeiten von "Nacht und Nebel", die dazu beiträgt, dass die
Produktion dieses Films selbst so etwas wie eine beispielhafte Recherche
wurde, die von bekannten Tatsachen ausging und dann aber doch an das
Unfassbare rührte. Alain Resnais hatte den Auftrag, einen Film über die
Lager zu machen, ihm zur Seite stand die Historikerin Olga Wormser, die
1946 bereits zum ersten Mal nach Polen gereist war und nach ihrer Rückkehr
einen ersten Appell veröffentlichte, sich den Tatsachen von "Gaskammern,
Selektion, Folter" zu stellen: "Ja, man muss immer noch davon sprechen, ehe
die Kornblumen von Auschwitz (ebenso blau wie in den Getreidefeldern
Frankreichs) die ganze menschliche Asche absorbiert haben, aus der sie
sprießen."
Eine Erinnerungsdeponie
Schon bei Wormser, die aus einer Familie ukrainischer Juden stammte, deutet
sich an, dass der Genozid an den Juden vor dem Hintergrund des Schwerpunkts
auf die Schicksale französischer Deportierter als "exogen" begriffen wird,
von Belang primär für eine jüdische Gemeinde, die dem französischen
Jakobinismus insofern "widerstrebt", als sie sich vom Rest der Nation
absondert. Diese Spannung, die man sehr viel später auf den Begriff der
Opferkonkurrenz gebracht hat, durchzieht konstitutiv das Buch von
Lindeperg. Es ist sehr erhellend, wie man minutiös nachlesen kann, wie sich
in den Jahren nach dem Krieg erst ganz allmählich die Landkarte der Gewalt
zusammensetzte, die von den Nationalsozialisten gezeichnet worden war.
Allein das später zur Chiffre gewordene Auschwitz war in sich ja eine
heterogene Einheit, in der 1955 einzelne Lagerteile dem Verfall überlassen
waren, während die polnischen Behörden an anderen Stellen gerade mit der
Errichtung musealer Infrastrukturen beschäftigt waren. Dies war die
Situation, in der Resnais mit seinem Team zu Dreharbeiten kam, in Birkenau
fanden sie eine "Deponie der Erinnerung" (Thierry Jonquet) vor. In Majdanek
wurde schließlich jene "von Fingernägeln gefurchte Decke" aus Beton
gefilmt, über die später viel gestritten wurde - wie konkret sind diese
Formulierung aus dem Sprechkommentar von Jean Cayrol und die dazugehörigen
Bilder tatsächlich zu nehmen, und wie viel übertragener Sinn ist in so
einem Fall zulässig?
Die von Resnais aufgenommenen Farbbilder ergaben eine wesentliche Ebene des
Films "Nacht und Nebel", dessen Bedeutung retrospektiv nicht zuletzt darin
liegt, dass er alle später als widersprüchlich zueinander verstandenen
Möglichkeiten der (Nicht-)Darstellung des Todes in den Lagern schon
enthält: Es gibt die zeitgenössischen, also nachträglichen Aufnahmen an den
Orten des Verbrechens, es gibt Archivmaterial, eine Weile wurden sogar
Reenactments in Erwägung gezogen, und Ausschnitte aus Spielfilmen zum
Beispiel von Wanda Jakubowska lagen bereit, um in die Montage einbezogen zu
werden - sie wurden dann nicht verwendet.
"Nacht und Nebel" entspricht also auf einer Ebene den strengen Kriterien,
die Claude Lanzmann für seinen Film "Shoah" maßgeblich werden ließ, und
unterläuft sie zugleich in derselben Montage. Resnais ging sogar so weit,
Material aus Leni Riefenstahls "Triumph des Willens" einzubauen, und gab
damit einen Präzedenzfall für so viele künftige Montagefilme vor.
Dass die Nazis selbst ein Bilderverbot über den Bereich der
"Menschenschlachthäuser" (Olga Wormser) verhängt hatten, ließ die wenigen
trotzdem zustandegekommenen fotografischen Zeugnisse auf prekäre Weise
kostbar werden - schon Resnais lagen die vier Fotografien vor, die
Mitglieder des Sonderkommandos in Birkenau heimlich aufgenommen hatten und
die heute als die Zeugnisse gelten, die den Gaskammern am nächsten kamen.
Nur eines davon fand Eingang in die Montage von "Nacht und Nebel".
Lindeperg bescheinigt diesem Bild, dessen Verwendung von Georges
Didi-Huberman in seinem Buch "Bilder trotz allem" ausführlich untersucht
wurde, eine "diskrete Präsenz" in "Nacht und Nebel". Wie alle anderen
Zeugnisse bewegt es sich "in einer spezifischen Konfiguration, bestehend
aus den Fortschritten des historiographischen Wissens, den herrschenden
Tendenzen des Gedächtnisses und dem Wandel der an die Bilder gerichteten
symbolischen und sozialen Anforderungen".
Diese Konfigurationen werden in dem Buch von Sylvie Lindeperg für "Nacht
und Nebel" mit einer Gründlichkeit untersucht, die vorbildlich ist und
schließlich bis in die deutsch-deutschen Rivalitäten reicht (in der DDR
liest Erwin Geschonneck einen Sprechkommentar, der von der westdeutschen
Version, die Paul Celan verfasst hat, wesentlich abweicht). Am Ende ihrer
langen Reise mit dem "tragbaren Erinnerungsort" von Resnais kommt Sylvie
Lindeperg auf Olga Wormser zurück, die in den 1980er Jahren wegen eines im
Detail anfechtbaren Buchs über die Lager ausgerechnet von dem Negationisten
Robert Faurisson (dem an der Leugnung der Judenvernichtung lag) das
vergiftete Kompliment bekam, sie wäre "die beste Spezialistin" auf diesem
Gebiet.
Dass "Nacht und Nebel" angesichts der Unwägbarkeiten der damals gerade erst
einsetzenden historischen Forschung überhaupt der Geschichte standhalten
konnte, lässt nach der Lektüre des großen Buches von Sylvie Lindeperg fast
verwundern. Was Resnais, der sich danach anderen Themen zuwandte und 1955
schon mindestens so sehr an den Kolonialismus wie an den Faschismus dachte,
erspart blieb, musste Olga Wormser, die von den Lagern nie loskam,
durchmachen - die ganzen unumgänglichen und schmerzvollen Debatten um immer
neue Zeugnisse und immer neue Bewertungen.
19 Jan 2011
## AUTOREN
Bert Rebhandl
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