Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Richter über Missbrauchsdebatte: "Der Sexualtrieb ist ein mächtig…
> Vor einem Jahr wurde der sexuelle Missbrauch von Schülern an
> Jesuiten-Gymnasien bekannt. Richter Uwe Nötzel kritisiert, dass die
> Missbrauchsdebatte undifferenziert geführt wird.
Bild: Unter dem Kreuz wird nicht nur Gutes getan - wie auch der Skandal um das …
taz: Herr Nötzel, als Vorsitzender einer Großen Strafkammer sitzen Sie über
Sexualstraftäter zu Gericht. Gibt es Taten, die Sie noch erschüttern?
Uwe Nötzel: Ja, immer wieder. Man erhält tiefe Einblicke in die Psyche. Und
das betrifft nicht nur die Täter, sondern auch die Opfer.
Vor einem Jahr sind die Missbrauchsfälle an katholischen Jesuiten-Gymnasien
bekannt geworden, betroffen war auch das Berliner Canisius-Kolleg. Ist die
Welle schon in Form von Anklagen auf Ihrem Richtertisch angekommen?
Nein. Ich denke, das wird noch eine gewisse Zeit dauern.
Seither wird breit über sexuellen Missbrauch diskutiert. Hat die Debatte
Ihrer Meinung nach etwas bewegt?
Da ist einiges in Gang geraten. Der Blick auf die katholische Kirche und
pädagogische Einrichtungen hat sich verändert. Es gibt den runden Tisch für
Vertreter von Opfergruppen, Kirche und Bundesregierung. Meine Empfehlung
wäre, die Dinge etwas ruhiger anzugehen und keine vorschnellen
gesetzgeberischen Lösungsangebote zu offerieren. Das geht bisweilen nach
hinten los.
Worauf wollen Sie hinaus?
Die Verjährungsfrist bei sexuellem Missbrauch beginnt erst mit
Volljährigkeit der Opfer - also dem 18. Lebensjahr - zu laufen. Es gibt ja
die Forderung, die Fristen auszuweiten. Doch das würde vermutlich wenig
ändern, weil die Aufklärungsmöglichkeiten im Laufe der Zeit immer
schlechter werden. Die Dinge werden nicht leichter dadurch, dass sie
jahrzehntelang verschüttet gelegen haben. Dazu kommt, dass die Diskussion
zum Teil sehr undifferenziert geführt wird.
Können Sie ein Beispiel dafür nennen?
Man muss unterscheiden, ob ein Lehrer oder ein Geistlicher einem
13-Jährigen oberhalb der Kleidung an den Schritt gefasst hat. Oder ob
schwere sexuelle Handlungen, Penetrationen oder dergleichen stattgefunden
haben. In der Diskussion wird sehr häufig vieles vermengt.
Könnten Sie mal die Bandbreite der Missbrauchstaten skizzieren, mit denen
Sie als Richter konfrontiert sind?
Es gibt schwere und weniger schwere Taten. Alles, was mit Penetration
zusammenhängt, ist ein viel gravierenderer Eingriff in das Rechtsgut des
Opfers, als beispielsweise Berührungen im Vorbeigehen. Auch auf die Länge
des Tatzeitraums kommt es an. Handelt es sich um eine flüchtige Tat oder um
einen Missbrauch von mehreren Jahren? Ist das Opfer tagtäglich oder in
einem regelmäßigen Rhythmus missbraucht worden - zum Bespiel immer am
Wochenende, wenn die Mutter Spätschicht hatte? Hatte es keine Chance zu
entrinnen oder sich zu offenbaren? Manche Täter drohen ihrem Opfer ja:
"Sagst du es der Mama, kommst du ins Heim." Oder: "Dann bringe ich deine
Mutter um." Zum Teil sind die Opfer so jung, dass sie überhaupt nicht
einordnen können, wenn es heißt: Das machen alle, die sich lieb haben.
Sie haben selbst Kinder. Spielt das in Ihrem Unterbewusstsein bei den
Prozessen eine Rolle?
Ich kann ziemlich gut trennen. Das muss man als Richter auch. Andernfalls
läuft man Gefahr, die Sachlichkeit und Unparteilichkeit zu verlieren.
Allerdings ist ein Richter ein Mensch wie jeder andere. Dass sich durch die
Hintertür vielleicht doch gewisse Gefühle einschleichen, kann niemand
kategorisch ausschließen.
Darf ein Richter für den Angeklagten oder das Opfer Empathie empfinden?
Man sollte an den Fall so herangehen, dass man sich nicht festlegt, ob man
überhaupt ein Opfer oder einen Täter vor sich hat. Das herauszufinden ist
ja die Aufgabe. Dass jemand falsch belastet wird, kommt durchaus vor. Bei
Kindern würde ich das weniger vermuten als bei älteren Personen. Eine
Aussage ist ein scharfes Schwert. Bei Sexualstraftaten gibt es meistens
keine unabhängigen Zeugen. Es ist also eine spezifische "Aussage gegen
Aussage"-Konstellation. Der Bundesgerichtshof stellt sehr hohe
Anforderungen an die Prüfungsdichte des Urteils. Das muss man als
Strafrichter schon sehr gut begründen.
Wie kriegt man raus, ob jemand lügt?
Im Laufe der Zeit entwickelt man ein Gespür. Darauf allein kann man sich
aber nicht verlassen. Wir stützen uns auf Methoden der Aussagepsychologie.
Das ist wissenschaftlich verifiziert, es gibt dazu unzählige
Veröffentlichungen und Fortbildungen. Natürlich muss man auf der
Richterbank immer die eigene Fehlbarkeit und Unzulänglichkeit in Betracht
ziehen. Man könnte sich einfach irren und damit das größte Unheil
anrichten.
Hatten Sie schon mal das Gefühl, ein Fehlurteil gefällt zu haben?
Ich hatte schon öfters das Gefühl, wenn ich jemanden freigesprochen habe,
dass der Angeklagte eigentlich schuldig ist. Aber entweder die Fakten
reichen - oder sie reichen nicht. Das sind die Spielregeln: im Zweifel für
den Angeklagten. Das sind die Errungenschaften des Rechtsstaats.
Also lieber zehn Schuldige freisprechen als einen Unschuldigen verurteilen?
Ich kenne keinen Kollegen, der dem widersprechen würde.
Ist es ein Strafmilderungsgrund, wenn der Angeklagte auf die Vernehmung des
Opfers verzichtet und die Taten gesteht?
Das kann im Strafmaß unter Umständen einen erheblichen Unterschied
bedeuten.
Bis zum Beginn des Prozesses haben Sie viel über den Angeklagten gelesen.
Worauf achten Sie bei der ersten Begegnung im Gerichtssaal?
Das ist mit das Spannendste, wie sich eine Person, die man nur aus den
Akten kennt, präsentiert. Wie der Angeklagte auftritt. Ob er einem in die
Augen guckt. Wie er etwas erzählt. Wo er einen kleinen Haken schlägt, etwas
auslässt oder mauert. Viele Angeklagten reagieren gar nicht. Das sind zum
Teil sehr traurige Menschen, die ein Randdasein und ein Leben ohne Erfolge
geführt haben. Ungeliebt und ausgestoßen. Manchmal verhandelt man tagelang,
ohne den Angeklagten zu sehen: Er sitzt mit dem Kopf nach unten auf der
Bank. Andere hingegen kommentieren verbal, mimisch und gestisch alles, was
gesagt wird.
Gibt es eine bestimmte wiederkehrende Art, wie Angeklagte leugnen und
bagatellisieren?
Es kommt durchaus vor, dass jemand eine Lebensbeichte ankündigt. Ob es
wirklich eine ist, ist meist nicht so klar. Die große Linie ist, dass
Angeklagte versuchen, Verständnis zu erwecken für eine doch hässliche Tat.
Das ist menschlich.
Können Sie ein Beispiel dafür nennen?
Sexualtäter verschieben die Schuldanteile gern ein wenig auf die
Opferseite. Etwa in der Art: "Das Kind hat sich immer zu mir auf die Couch
gesetzt und wollte kuscheln. Dabei ist es dann aber nicht geblieben." Das
ist keine seltene Verteidigungsstrategie. Es mag stimmen, dass es solche
Situationen gab. Aber ein Erwachsener hat die Entscheidung zu treffen: Geht
man darauf ein oder nicht.
Erleben Sie so was wie Reue?
Das Wort Reue höre ich im Gerichtssaal sehr oft. Es ist schwer, das zu
gewichten. Und nach 20 Jahren forensischer Erfahrung neigt man ein bisschen
zur Skepsis. Aber auch da muss man versuchen, als Richter innerlich
gegenzuarbeiten. Vielleicht kann man es dem einen oder anderen doch
abnehmen. Und das tue ich auch.
Suchen Sie nach Erklärungen für die Taten?
Die Hintergründe und Motive sind ein ganz wichtiger Punkt. Viele Angeklagte
sind intellektuell gar nicht in der Lage, sich zu erklären. Teilweise
handelt es sich um Männer, die große Schwierigkeiten haben, unter
erwachsenen Frauen eine Sexualpartnerin zu finden. Sie sind dann auf Kinder
ausgewichen, um ihre Sexualität auszuleben. Der Sexualtrieb ist ein
mächtiger Trieb. Oder es handelt sich um Männer, die sich in der Welt der
Kinder einfach besser zurechtfinden. Auch das ist nicht selten.
Und dann gibt es noch die klassischen Pädophilen, die im psychiatrischen
Sinne krank sind.
Auch Pädophile sind grundsätzlich für ihre Taten verantwortlich. Aber viele
Sexualtäter, über die wir verhandeln, sind keine Pädophilen im klassischen
Sinne.
Bei der Urteilsverkündung im Fall des Sexualstraftäters Uwe K. haben Sie im
September vergangenen Jahres gesagt: Der Angeklagte sei nicht als Monster
aufgetreten. Gehen Ihnen solche Vergleiche auch in anderen Verfahren durch
den Kopf?
Eigentlich nicht. Ich habe aber durchaus schon Angeklagte erlebt, die im
Gerichtssaal überhaupt keine Gefühle erkennen ließen. Sie erschienen mir
kalt und ohne jede Empathie. Teilweise stand das im Einklang mit ihren
Taten.
Der Fall Uwe K. war in den Medien ein Dauerbrenner. Jetzt ereifert sich
halb Berlin über eine kleine Gruppe von Sexualstraftätern, die nach
jahrzehntelanger Haft aus der Sicherungsverwahrung freikommen soll.
Inwieweit kann man sich als Richter davon denn noch freimachen?
Das ist eine Persönlichkeitsfrage, dafür gibt es kein Patentrezept. Die
Medien durchdringen alles, auch das Privatleben eines Richters. Wir lesen
Zeitung, hören Radio, sehen fern. Sexueller Kindesmissbrauch ist ein Thema,
das sich gut vermarkten lässt, weil es die Gefühlsseite der Menschen
berührt. Mich ärgert die Berichterstattung häufig eher. Zu bedenken ist
auch: Alle Statistiken sagen, dass die Zahl der Sexualdelikte seit Jahren
zurückgeht. In derselben Zeit - seit 1997 - hat der Gesetzgeber den
Strafrahmen mehrfach verschärft.
Können Sie nachvollziehen, dass sich Opfer - wie im Zuge der aktuellen
Missbrauchsdebatte geschehen - erst Jahrzehnte nach den Taten offenbaren?
Zu entscheiden hatte ich als Richter solch einen Fall noch nicht. Ein
restloses Vergessen und Verdrängen dürfte kaum gelingen. Zurück bleibt eine
Narbe, die durch äußere Anlässe aufbrechen kann. Die Art und Weise, wie
exponierte Vertreter betroffener Einrichtungen Anschuldigungen lässig vom
Tisch wischen, mag auch ein Anstoß sein, sich zu Wort zu melden.
25 Jan 2011
## AUTOREN
Plutonia Plarre
## ARTIKEL ZUM THEMA
Missbrauch in Internaten: Orden will zahlen
Der Jesuitenorden kündigt an, Opfer des sexuellen Missbrauchs in seinen
Internaten schnell zu entschädigen. Allerdings bloß mit 5.000 Euro pro
Person.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.