# taz.de -- Regisseur Mike Leigh über das Showbusiness: "Es muss Erwachsenenfi… | |
> "Another Year" heißt der neue Film des britischen Regisseurs und | |
> Philanthropen Mike Leigh. Ein Gespräch über Improvisation und einen neuen | |
> infantilen Faschismus in der Politik. | |
Bild: Leigh-Film Another Year: "Ein epischer Actionfilm, denn er dreht sich um … | |
taz: Herr Leigh, Sie sind im Kino einer der letzten Verteidiger des | |
Alltäglichen. Im Zeitalter der Spektakel favorisieren Sie weiterhin das | |
entschieden Unspektakuläre. | |
Mike Leigh: Ich bin doch nicht gegen Filmspektakel! Ich arbeite wie alle | |
anderen auch im Spektakelgeschäft. Ich halte meinen neuen Film, "Another | |
Year", ganz ernsthaft für einen epischen Actionfilm, denn er dreht sich um | |
das Abenteuer Leben. Und es muss neben all dem kindischen Kino, von dem wir | |
umgeben sind, auch Platz für Erwachsenenfilme geben. Aber wenn Sie | |
behaupten, wir lebten in einer Gesellschaft der Filmspektakel, so meinen | |
Sie unverzeihlicherweise nur Hollywood. | |
Ich meine nicht nur Hollywood. Aber gut: vor allem. | |
Hollywood ist bloß ein winziger Teil dessen, was im Weltkino produziert | |
wird. Reden wir also nicht von einer Spektakelgesellschaft, denn das würde | |
bedeuten, vor Hollywood, diesem selbst ernannten Vatikan des Kinos, in die | |
Knie zu gehen. Der europäische Film ist viel profunder. Insofern halte ich | |
mich nicht für einen isolierten Aktivisten, denn Hollywood hat mit dem, was | |
ich mache, verdammt wenig zu tun. | |
Bedeutet Ihnen der Begriff Unterhaltung etwas? | |
Absolut! Ich bin im Showbusiness tätig. Und ich bin ebenso sehr Humorist | |
wie Tragöde. Von frühester Kindheit an hat mich das Kino genauso fasziniert | |
wie das Theater, das Varieté, der Zirkus, die Vaudeville-Szene. Man hat als | |
Filmemacher nicht nur für harte Wahrheiten, sondern auch für Genuss und | |
Vergnügen zu sorgen. Meine Arbeiten sind gebaut wie eine Menüfolge, ich | |
betrachte ihre Struktur wie ein Küchenchef, ich denke gastronomisch! | |
Die Frau, die Lesley Manville in "Another Year" so aufsehenerregend spielt, | |
ist eine sehr typische Mike-Leigh-Figur: hypernervös, ziemlich neurotisch, | |
in ihren Manierismen auch sehr stilisiert. | |
Für mich ist das eine vollkommen reale Figur. Man muss nicht lange suchen, | |
um in der wirklichen Welt Menschen dieser Art zu finden. Als ich heute im | |
Hotel frühstückte, konnte ich durch die Glasscheibe mindestens sieben oder | |
acht Passanten sehen, die - wie Sie sagen würden - perfekte Darsteller in | |
einem Mike-Leigh-Film wären. | |
Der japanische Meisterregisseur Yasujiro Ozu gehört zu ihren Idolen. Er war | |
Klassizist, ein großer Konservativer der avancierten Form. Sehen Sie da | |
eine Verwandtschaft zu Ihren eigenen Filmen? | |
Klar. Aber Sie werden noch ein paar weitere wichtige Einflüsse finden. Für | |
"Another Year" habe ich mich etwa an Tschechow, Beckett, Harold Pinter und | |
Vermeer orientiert. | |
An Vermeer? | |
Sicher. Ich denke beim Drehen nicht unentwegt an solche Vorbilder. Ich bin | |
mir ihrer einfach nur bewusst. Diese Einflüsse sind über ein halbes | |
Jahrhundert in mich eingesickert. | |
Ist die Malerei eine so große Inspiration für Sie? | |
Mein nächster Film wird sich um William Turners Leben und Werk drehen. Wenn | |
ich das nötige Geld dafür auftreiben kann. Der Turner-Film wird empfindlich | |
teurer werden als meine ebenfalls historische Arbeit "Topsy-Turvy". Schon | |
weil wir angesichts der Karriere dieses naturbesessenen Malers nicht alles | |
im Studio drehen können. Turner ließ sich bei heftigem Unwetter an den Mast | |
eines Schiffes binden, nur um einen Sturm malen zu können! So etwas lässt | |
sich im Atelier nicht gut nachstellen. | |
Welche Rolle spielt Ihr langjähriger Kameramann Dick Pope, wenn es um das | |
Malerische Ihrer Filme geht? | |
Eine gewaltige Rolle. Er hat seit "Life Is Sweet" (1990) alle meine Filme | |
fotografiert. Wir denken beide sehr visuell, haben über die Jahre ein | |
fundamentales gegenseitiges Einverständnis entwickelt. Bestimmte Aufnahmen | |
nennen wir etwa gern "Hommage an Hopper". Wir wissen dann sofort, was | |
gemeint ist. | |
Aber glücklicherweise imitieren Sie weder Hopper noch Vermeer. | |
Klar, wir machen ja keine Wim-Wenders-Filme. Am Ende geht es nur darum, das | |
Publikum mit der Erzählung zu erwischen, nicht darum, es an Kunst denken zu | |
lassen. | |
Ihre Dialoge sind grundsätzlich improvisiert. Sie schreiben nie Drehbücher, | |
nur Storyentwürfe. | |
Ich glaube fest daran, dass Kunst grundsätzlich aus der Improvisation | |
entspringt - als Synthese aus Ordnung und extemporierten Ideen. | |
Alle Kunst ist improvisiert? Gälte das auch für Piet Mondrians extrem | |
kalkulierte Malerei? | |
Bei allem Respekt: Meine These über Kunst und Improvisation ist nicht | |
widerlegbar. Da nun ausgerechnet Mondrian anzuführen, nur um Ihren | |
Widerspruch anzubringen, ist wirklich gemogelt! Künstler seiner Art sind | |
nicht gerade die Regel. | |
Auch Ihren Filmen sieht man die Improvisation nicht an. Sie wirken extrem | |
kontrolliert, da gibt es keine Spur von Chaos. Sie proben so lange, bis | |
jedes Wort sitzt? | |
Natürlich, das ist die Kunst der Improvisation. Man gewinnt den Eindruck | |
vollkommener Spontaneität - und doch ist alles genau geplant. So sollten | |
aber alle Filme sein, nicht nur meine. | |
Sie arbeiten in Großbritannien. Welche Rolle spielt das jeweils herrschende | |
politische Klima? Ertappen Sie sich dabei, wie Ihre Filme unter dem | |
Eindruck etwa der gegenwärtigen konservativen Regierung schärfer oder | |
härter werden? | |
Ich habe in den achtziger Jahren Filme gedreht, in denen es ein direktes | |
Verhältnis zwischen meiner Arbeit und dem Thatcher-Regime gab - "High | |
Hopes" beispielsweise, "Four Days in July" oder auch "Meantime". Es wäre | |
aber Unsinn zu behaupten, "Another Year" hätte viel mit der Politik Gordon | |
Browns zu tun. Inzwischen mache ich keine Filme über England mehr, ich | |
thematisiere vielmehr die condition humaine. Aber wenn Sie mir diese Frage | |
heute stellen, gewinnt sie an Brisanz: Denn wir haben geschafft, in | |
Großbritannien eine radikal verantwortungslose rechte Regierung zu | |
installieren - ich fürchte, dass es die gefährlichste und exzentrischste | |
Regierung ist, die England je erlebt hat. Premierminister David Cameron | |
entmachtet unter dem Deckmantel einer perversen Vorstellung von | |
"Demokratie" eine staatliche Einrichtung nach der anderen. Camerons | |
Demokratieverständnis geht davon aus, dass etwas erst demokratisch sein | |
kann, wenn es in Privatbesitz ist. | |
Macht Ihnen das Angst? | |
Wir alle sind gerade dabei, aus der gemütlichen Enttäuschung, die New | |
Labour darstellte und an die man sich gewöhnt hatte, aufzuwachen - und | |
langsam steigt in uns allen tatsächlich Panik auf. Dann blickt man nach | |
Amerika und findet dort eine Bewegung wie die Tea Party vor. Man muss | |
leider befürchten, dass sich da ein weltweiter Trend zur sozialen | |
Verantwortungslosigkeit, zu einer infantilen neuen Form des Faschismus | |
abzeichnet. Das ist schon beängstigend. | |
Würden Sie sagen, Ihre Filme vermittelten Botschaften? | |
Ich nagle meine Zuschauer nicht mit einer Message an die Wand. Aber | |
zweifellos beziehe ich in vielerlei Hinsicht auch Stellung. In "Vera Drake" | |
etwa gebe ich zu verstehen, was ich davon hielte, Abtreibungen wieder | |
illegal zu machen. "Another Year" hat keine derart simplen Mitteilungen zu | |
machen. Aber der Film ist jedenfalls kein Plädoyer für Hass und Egoismus. | |
"Another Year" erscheint wie ein Katalog menschlicher Verhaltensweisen. | |
Stimmt. Aber ich würde davor warnen, den Film darauf zu reduzieren. Denn | |
das würde bedeuten, dass er distanziert und klinisch wirkte. Aber meine | |
Filme müssen emotional offen sein. Ich bin kein Wissenschaftler. Es mag | |
schon sein, dass mein Stil auch diese Seite hat: Die kühle Beobachtung ist | |
mir nicht ganz fern. Ich muss eben in der Lage sein, den Schmerz meiner | |
Charaktere auszuhalten. | |
26 Jan 2011 | |
## AUTOREN | |
Stefan Grissemann | |
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