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# taz.de -- Blick nach Moldau am Weltkrebstag: Geld oder Leben
> Im ärmsten Land Europas, der Republik Moldau, kommt eine Krebsdiagnose
> oftmals einem Todesurteil gleich. Wer leben will, muss zahlen können.
Bild: In der Republik Moldau gibt es nur eine einzige Krebsstation.
CHISINAU taz | Die Kinderstation der einzigen Krebsklinik der Republik
Moldau ist frisch renoviert. Das Geld dafür kam, so verrät es eine
Werbebotschaft, von einem Mobilnetzanbieter. Decke und Wände strahlen in
hellen Farben. Doch das freundliche Bild täuscht. Aus einem Zimmer dringen
die gequälten Schreie einer kleinen Patientin. Irina hört darüber hinweg.
Sie ist 33 Jahre alt, trägt einen dunklen Jogginganzug und hat die roten
Locken zu einem Pferdeschwanz gebunden. "Das Leiden gehört hier dazu", sagt
sie, "und der Tod auch." Neben ihr im Bett liegt stumm und blass die
dreijährige Tochter Bianca. Sie hat Leukämie.
Irina erzählt vom ersten Verdacht vor einem Jahr, von der Diagnose, dem
Schock und dem langen Kampf um Biancas Leben. Es begann mit einer
Chemotherapie und schrecklichen Schmerzen. Die Ärzte eröffneten den Eltern,
dass sie eine andere, viel teurere Medizin kaufen müssten, wenn Bianca
leben soll. "Wir wollen das Beste für unser Kind", sagt Irina. Ihr Mann
arbeitet für eine ausländische Firma. "Wir sind privilegiert, wir konnten
die 2.000 Dollar auftreiben." Nun sieht es nach neun Monaten in der Klinik
tatsächlich so aus, dass die gerade eingeschlafene Tochter überleben wird.
Irina schaut verstohlen zu den anderen Müttern, den anderen Kindern. "Die
müssen die Medikamente nehmen, die es umsonst gibt, obwohl die Kinder die
Medizin oft gar nicht vertragen. Sie können sich nichts anderes leisten."
Das Zimmer ist eng und karg, aber sauber. Vier Kinder leben hier oft schon
seit Monaten mit ihren Müttern, mit denen sie das Bett teilen müssen. "Es
gibt nicht genug Platz", sagt Irina. Einige Patienten sind schon 16. "Deren
Mütter sitzen dann die ganze Nacht am Fußende und hoffen, dass die Nacht
bald vorübergeht." Plötzlich kommen ihr die Tränen. "Ich kann nicht mehr",
flüstert sie.
Dr. Eleonora Pintea kennt das. Die Erschöpfung ist ihr Alltag. Die
38-jährige zierliche Frau ist eine der beiden Stationsärztinnen. Im Monat
verdient sie 200 Dollar. "Das reicht", sagt sie, "zum Überleben, für mehr
nicht." Meist kann sie, wenn überhaupt, den Kindern nur die billigsten
Medikamente anbieten, die auf dem Weltmarkt zu bekommen sind. Produkte aus
Indien, Pakistan oder Vietnam, bei denen sie oft nicht einmal weiß, ob sie
überhaupt einen Wirkstoff enthalten, von den Nebenwirkungen ganz abgesehen.
"Aber vor ein paar Jahren", so betont sie, "hatten wir nicht einmal die."
Eleonora Pintea weiß, dass viele Eltern mit der privaten Finanzierung
besserer Medizin überfordert sind. "Wenn das Geld fehlt, können wir nur
warten, bis das Kind stirbt." Die Ärztin weiß auch, wie das klingt, macht
eine Pause, sagt, dass sie sich einfach nicht daran gewöhnen kann. Diese
Hilflosigkeit. "Ich kann das nicht in Worte fassen". Die Situation der
erwachsenen Krebskranken, sagt sie zum Abschied, sei noch schlimmer. Ein
Trost sei das aber nicht.
Moldau liegt mit seinen 3,5 Millionen Einwohnern zwischen Rumänien und der
Ukraine am jenseitigen Rand der Europäischen Union und war bis 1991 eine
vergleichsweise wohlhabende Unionsrepublik der Sowjetunion. Heute gilt es
als das ärmste Land Europas. Das jährliche nominelle Bruttoinlandsprodukt
ist mit gut 1.100 Euro pro Einwohner vergleichbar mit dem Boliviens, der
Mongolei oder Sudans. Der Staatshaushalt beträgt etwa 1,5 Milliarden Euro.
Das sind weniger als 2 Prozent vom Jahresumsatz des VW-Konzerns. Dazu kommt
eine politische Dauerkrise. Auch die Wahlen Ende 2010 brachten kein
zukunftsfähiges Ergebnis.
Den Mangel verwalten
"Wegen dieser Wahlen", erklärt Klinikleiter Professor Viktor Cernat, "wurde
das Budget der Klinik für das laufende Jahr noch gar nicht verabschiedet."
Sogar die einfachsten Medikamente sind jetzt knapp. Cernat verwaltet den
Mangel erst seit knapp einem Jahr. Sein Vorgänger sitzt im Gefängnis. Er
soll gespendete Medikamente auf eigene Rechnung verkauft haben. Etwa ein
Drittel der im Land benötigten Arzneimittel wird von ausländischen
Hilfsorganisationen bereitgestellt.
Cernat ist für insgesamt 1.005 Betten verantwortlich. Nur ein paar Dutzend
davon sind für Krebspatienten reserviert. Pro Jahr darf er etwa 1,6
Millionen Euro für Medikamente ausgeben. Ein Bruchteil dessen, was eine
vergleichbare deutsche Klinik zur Verfügung steht. Gerade aber Krebskranke
brauchen die teuersten Behandlungen. Schon eine einzige Therapie kann
100.000 Euro kosten. "Ohne Hilfe von außen", sagt Cernat, "wäre die
Katastrophe perfekt."
Allein die deutsche Krebsallianz hat seit 2009 Medikamente im Wert von mehr
als 5 Millionen Euro zur Verfügung gestellt. Um zu entscheiden, welcher
Patient überhaupt was bekommen darf, hat Cernat mit den Spezialisten der
Fachbereiche ein Komitee gegründet. Es gibt verschiedene Kriterien, sagt
der Professor, doch "wer über 70 ist, hat in der Regel keine Chance".
Eine Fahrt durch die Hauptstadt Chisinau. 700.000 Menschen leben in der
Hauptstadt. Ein paar mehr oder minder gut erhaltene historische Bauwerke,
vor allem aber eine stalinistisch geprägte Stadtarchitektur mit breiten
Ausfallstraßen zwischen Wohnblöcken in sozialistischer Plattenbauweise. Das
Erdgeschoss im einstmals prächtigen Gebäude der Stadtverwaltung ist aus
Geldmangel an ein Import-Export-Geschäft vermietet. Neben einer
Euro-Credit-Bank verspricht eine gigantische Werbetafel ein besseres Leben
mit der richtigen Einbauküche, während eine mit Lichterketten aufgepeppte
Imbissbude zum Business-Lunch lädt.
Auf dem Rücksitz des alten Audis, den ihr Sohn um die Schlaglöcher
herumkutschiert, sitzt Rodica Cerbov. Sie zeigt auf die ummauerten,
protzigen Villenviertel neureicher Aufsteiger und kommunistischer Altkader
und erklärt, dass einige der hochmodernen Shopping-Malls auch mit
EU-Mitteln errichtet wurden und die dort erhältlichen westlichen
Markenprodukte für den Normalbürger oft so unerschwinglich sind wie ein
anderes, existenziell ungleich wichtigeres Gut: Gesundheit.
Cerbov, eine stur optimistische Ingenieurin Ende 40, hat vor 13 Jahren
Coram Deo gegründet, eine kleine Hilfsorganisation, die mit der Deutschen
Krebsallianz kooperiert. Ihr Ziel heißt Malaieshti Mici, ein kleines Dorf
an der Grenze zum abtrünnigen Transnistrien. Die Straßen haben sich im
Regen aufgelöst, hinter schiefen Bretterzäunen stehen schiefe Holzhäuser
mit oftmals kaputten Fenstern. Es gibt keine Kanalisation, aber Strom,
einen kleinen Laden und mehr Kutschen als Autos.
Hier lebt Familie Malai. Vier schüchterne Kinder, zwei, fünf, sechs und
acht Jahre alt. Eher scheu auch die Eltern IIina und Boris, beide 28 Jahre
alt. Alle zusammen hausen sie in einem knapp 25 Quadratmeter großen Raum:
zwei Betten, ein kaputter Schrank, ein Tisch, zwei Stühle. An der Wand
klebt eine Art Paradies: eine Fototapete mit Sonne, Strand und Palmen. Eine
absurde Verheißung im scharfen Gegensatz zur tatsächlichen Situation. "Es
gibt keine Arbeit", sagt Boris, "und ohne Arbeit kein Geld und ohne Geld
kein Leben."
Für eine Woche Schufterei auf einem der Felder bekommt er im Sommer
umgerechnet 12 Euro. Das reicht für etwas Brot und Makkaroni, aber kaum
noch für Socken für die Kinder. "Ich will hier weg", sagt er, "schon
solange ich denken kann. Aber es gibt keine Chance." Angeblich arbeitet
bereits jeder vierte Moldauer im Ausland.
Beten statt helfen
Ilina streicht über eine Decke, darunter liegt der Zweitälteste, ein
blonder, zarter Junge namens Anatol. "Selbst die Ärzte sagen mir", so
Ilina, "dass ihre Medikamente gegen seine Leukämie kaum helfen." Sie konnte
nichts Besseres kaufen, kann es immer noch nicht und wird es, ohne dass ein
Wunder geschieht, auch in Zukunft nicht können. Also bekommt Anatol die
Medizin, an die nicht einmal die Ärzte glauben.
Wenn es schlimmer wird, versuchen die Eltern, noch einmal irgendwo Geld zu
leihen, um in die Klinik nach Chisinau zu fahren. "Für zwei Tage dort
brauche ich mindestens 100 Lei für Transport, Essen und Medizin." 100 Lei
sind etwa 6 Euro. Boris schaut immer noch auf den Boden. Seine Familie hat
Hunger. "Es gibt hier keine Solidarität", sagt Ilina noch. "Keiner hilft.
Die meisten haben ja selbst nichts." Auch Cerbov ist ratlos. Sie bietet der
Familie an, mit ihr zu beten.
Zurück in der Krebsklinik. Im Gang steht Viktor Daree, ein großer,
kahlköpfiger Mann Mitte 30. Der promovierte Psychologe beschäftigt sich
seit gut 10 Jahren mit der Situation der Schwerstkranken in Moldau. "Immer
wieder", sagt er, "bitten mich Ärzte, den Angehörigen beizubringen, dass
ihr Kind sterben muss, weil die Rettung zu teuer ist." Jede zweite Familie
steht hier vor der Frage: Geld oder Leben. "Etwa die Hälfte der
Betroffenen", so Daree, "kratzt alles zusammen, was sie auftreiben kann."
Der Rest aber verzichtet auf weitere Investitionen, spart die knappen
Mittel lieber für die Zukunft der gesunden Familienmitglieder. "Die Ärzte
sagen den Müttern dann, lass das Kind sterben, mach lieber ein neues."
Daree weiß genau, wie viel Geld in Moldau durchschnittlich für die
Gesundheit eines Bürgers zur Verfügung steht. "Bei uns", sagt er, "ist ein
Leben 100 Euro wert."
4 Feb 2011
## AUTOREN
Jörn Klare
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