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# taz.de -- Das Kirchen-Memorandum: "Wir dürfen nicht länger schweigen"
> Einen offenen Dialog über Reformen in der Kirche fordern die
> Theologieprofessorinnen und -professoren. Die taz dokumentiert das
> Memorandum zur Krise der katholischen Kirche.
Bild: Laienorganisationen warten schon seit langem auf den Dialog mit den Kirch…
"Gut ein Jahr ist vergangen, seit am Berliner Canisius-Kolleg Fälle von
sexuellem Missbrauch an Kindern und Jugendlichen durch Priester und
Ordensleute öffentlich gemacht wurden. Es folgte ein Jahr, das die
katholische Kirche in Deutschland in eine beispiellose Krise gestürzt hat.
Das Bild, das sich heute zeigt, ist zwiespältig: Vieles ist begonnen
worden, um den Opfern gerecht zu werden, Unrecht aufzuarbeiten und den
Ursachen von Missbrauch, Verschweigen und Doppelmoral in den eigenen Reihen
auf die Spur zu kommen. Bei vielen verantwortlichen Christinnen und
Christen mit und ohne Amt ist nach anfänglichem Entsetzen die Einsicht
gewachsen, dass tief greifende Reformen notwendig sind.
Der Aufruf zu einem offenen Dialog über Macht- und
Kommunikationsstrukturen, über die Gestalt des kirchlichen Amtes und die
Beteiligung der Gläubigen an der Verantwortung, über Moral und Sexualität
hat Erwartungen, aber auch Befürchtungen geweckt: Wird die vielleicht
letzte Chance zu einem Aufbruch aus Lähmung und Resignation durch Aussitzen
oder Kleinreden der Krise verspielt? Die Unruhe eines offenen Dialogs ohne
Tabus ist nicht allen geheuer, schon gar nicht wenn ein Papstbesuch
bevorsteht. Aber die Alternative: Grabesruhe, weil die letzten Hoffnungen
zunichte gemacht wurden, kann es erst recht nicht sein.
Die tiefe Krise unserer Kirche fordert, auch jene Probleme anzusprechen,
die auf den ersten Blick nicht unmittelbar etwas mit dem Missbrauchsskandal
und seiner jahrzehntelangen Vertuschung zu tun haben. Als
Theologieprofessorinnen und -professoren dürfen wir nicht länger schweigen.
Wir sehen uns in der Verantwortung, zu einem echten Neuanfang beizutragen:
2011 muss ein Jahr des Aufbruchs für die Kirche werden.
Im vergangenen Jahr sind so viele Christen wie nie zuvor aus der
katholischen Kirche ausgezogen; sie haben der Kirchenleitung ihre
Gefolgschaft gekündigt oder haben ihr Glaubensleben privatisiert, um es vor
der Institution zu schützen. Die Kirche muss diese Zeichen verstehen und
selbst aus verknöcherten Strukturen ausziehen, um neue Lebenskraft und
Glaubwürdigkeit zurück zu gewinnen.
Die Erneuerung kirchlicher Strukturen wird nicht in ängstlicher Abschottung
von der Gesellschaft gelingen, sondern nur mit dem Mut zur Selbstkritik und
zur Annahme kritischer Impulse - auch von außen. Das gehört zu den
Lektionen des letzten Jahres: Die Missbrauchskrise wäre nicht so
entschieden bearbeitet worden ohne die kritische Begleitung durch die
Öffentlichkeit. Nur durch offene Kommunikation kann die Kirche Vertrauen
zurückgewinnen. Nur wenn Selbst- und Fremdbild der Kirche nicht
auseinanderklaffen, wird sie glaubwürdig sein.
Wir wenden uns an alle, die es noch nicht aufgegeben haben, auf einen
Neuanfang in der Kirche zu hoffen und sich dafür einzusetzen. Signale zu
Aufbruch und Dialog, die einige Bischöfe während der letzten Monate in
Reden, Predigten und Interviews gesetzt haben, greifen wir auf.
Die Kirche ist kein Selbstzweck. Sie hat den Auftrag, den befreienden und
liebenden Gott Jesu Christi allen Menschen zu verkünden. Das kann sie nur,
wenn sie selbst ein Ort und eine glaubwürdige Zeugin der Freiheitsbotschaft
des Evangeliums ist. Ihr Reden und Handeln, ihre Regeln und Strukturen -
ihr ganzer Umgang mit den Menschen innerhalb und außerhalb der Kirche -
stehen unter dem Anspruch, die Freiheit der Menschen als Geschöpfe Gottes
anzuerkennen und zu fördern. Unbedingter Respekt vor jeder menschlichen
Person, Achtung vor der Freiheit des Gewissens, Einsatz für Recht und
Gerechtigkeit, Solidarität mit den Armen und Bedrängten: Das sind
theologisch grundlegende Maßstäbe, die sich aus der Verpflichtung der
Kirche auf das Evangelium ergeben. Darin wird die Liebe zu Gott und zum
Nächsten konkret.
Die Orientierung an der biblischen Freiheitsbotschaft schließt ein
differenziertes Verhältnis zur modernen Gesellschaft ein: In mancher
Hinsicht ist sie der Kirche voraus, wenn es um die Anerkennung von
Freiheit, Mündigkeit und Verantwortung der Einzelnen geht; davon kann die
Kirche lernen, wie schon das Zweite Vatikanische Konzil betont hat. In
anderer Hinsicht ist Kritik aus dem Geist des Evangeliums an dieser
Gesellschaft unabdingbar, etwa wo Menschen nur nach ihrer Leistung
beurteilt werden, wo wechselseitige Solidarität unter die Räder kommt oder
die Würde des Menschen missachtet wird.
In jedem Fall aber gilt: Die Freiheitsbotschaft des Evangeliums bildet den
Maßstab für eine glaubwürdige Kirche, für ihr Handeln und ihre
Sozialgestalt. Die konkreten Herausforderungen, denen sich die Kirche
stellen muss, sind keineswegs neu. Zukunftsweisende Reformen lassen sich
trotzdem kaum erkennen. Der offene Dialog darüber muss in folgenden
Handlungsfeldern geführt werden.
1. Strukturen der Beteiligung: In allen Feldern des kirchlichen Lebens ist
die Beteiligung der Gläubigen ein Prüfstein für die Glaubwürdigkeit der
Freiheitsbotschaft des Evangeliums. Gemäß dem alten Rechtsprinzip "Was alle
angeht, soll von allen entschieden werden" braucht es mehr synodale
Strukturen auf allen Ebenen der Kirche. Die Gläubigen sind an der
Bestellung wichtiger Amtsträger (Bischof, Pfarrer) zu beteiligen. Was vor
Ort entschieden werden kann, soll dort entschieden werden. Entscheidungen
müssen transparent sein.
2. Gemeinde: Christliche Gemeinden sollen Orte sein, an denen Menschen
geistliche und materielle Güter miteinander teilen. Aber gegenwärtig
erodiert das gemeindliche Leben. Unter dem Druck des Priestermangels werden
immer größere Verwaltungseinheiten - "XXL-Pfarren" - konstruiert, in denen
Nähe und Zugehörigkeit kaum mehr erfahren werden können. Historische
Identitäten und gewachsene soziale Netze werden aufgegeben. Priester werden
"verheizt" und brennen aus. Gläubige bleiben fern, wenn ihnen nicht
zugetraut wird, Mitverantwortung zu übernehmen und sich in demokratischeren
Strukturen an der Leitung ihrer Gemeinde zu beteiligen. Das kirchliche Amt
muss dem Leben der Gemeinden dienen - nicht umgekehrt. Die Kirche braucht
auch verheiratete Priester und Frauen im kirchlichen Amt.
3. Rechtskultur: Die Anerkennung von Würde und Freiheit jedes Menschen
zeigt sich gerade dann, wenn Konflikte fair und mit gegenseitigem Respekt
ausgetragen werden. Kirchliches Recht verdient diesen Namen nur, wenn die
Gläubigen ihre Rechte tatsächlich geltend machen können. Rechtsschutz und
Rechtskultur in der Kirche müssen dringend verbessert werden; ein erster
Schritt dazu ist der Aufbau einer kirchlichen Verwaltungsgerichtsbarkeit.
4. Gewissensfreiheit: Der Respekt vor dem individuellen Gewissen bedeutet,
Vertrauen in die Entscheidungs- und Verantwortungsfähigkeit der Menschen zu
setzen. Diese Fähigkeit zu unterstützen, ist auch Aufgabe der Kirche; sie
darf aber nicht in Bevormundung umschlagen. Damit ernst zu machen, betrifft
besonders den Bereich persönlicher Lebensentscheidungen und individueller
Lebensformen. Die kirchliche Hochschätzung der Ehe und der ehelosen
Lebensform steht außer Frage. Aber sie gebietet nicht, Menschen
auszuschließen, die Liebe, Treue und gegenseitige Sorge in einer
gleichgeschlechtlichen Partnerschaft oder als wiederverheiratete
Geschiedene verantwortlich leben.
5. Versöhnung: Solidarität mit den "Sündern" setzt voraus, die Sünde in den
eigenen Reihen ernst zu nehmen. Selbstgerechter moralischer Rigorismus
steht der Kirche nicht gut an. Die Kirche kann nicht Versöhnung mit Gott
predigen, ohne selbst in ihrem eigenen Handeln die Voraussetzung zur
Versöhnung mit denen zu schaffen, an denen sie schuldig geworden ist: durch
Gewalt, durch die Vorenthaltung von Recht, durch die Verkehrung der
biblischen Freiheitsbotschaft in eine rigorose Moral ohne Barmherzigkeit.
6. Gottesdienst: Die Liturgie lebt von der aktiven Teilnahme aller
Gläubigen. Erfahrungen und Ausdrucksformen der Gegenwart müssen in ihr
einen Platz haben. Der Gottesdienst darf nicht in Traditionalismus
erstarren. Kulturelle Vielfalt bereichert das gottesdienstliche Leben und
verträgt sich nicht mit Tendenzen zur zentralistischen Vereinheitlichung.
Nur wenn die Feier des Glaubens konkrete Lebenssituationen aufnimmt, wird
die kirchliche Botschaft die Menschen erreichen.
Der begonnene kirchliche Dialogprozess kann zu Befreiung und Aufbruch
führen, wenn alle Beteiligten bereit sind, die drängenden Fragen anzugehen.
Es gilt, im freien und fairen Austausch von Argumenten nach Lösungen zu
suchen, die die Kirche aus ihrer lähmenden Selbstbeschäftigung
herausführen. Dem Sturm des letzten Jahres darf keine Ruhe folgen! In der
gegenwärtigen Lage könnte das nur Grabesruhe sein. Angst war noch nie ein
guter Ratgeber in Zeiten der Krise. Christinnen und Christen sind vom
Evangelium dazu aufgefordert, mit Mut in die Zukunft zu blicken und - auf
Jesu Wort hin - wie Petrus übers Wasser zu gehen: "Warum habt ihr solche
Angst? Ist euer Glaube so klein?"
[1][www.memorandum-freiheit.de]
4 Feb 2011
## LINKS
[1] http://www.memorandum-freiheit.de
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