# taz.de -- Perspektive Deutsches Kino: Shoppen, Autofahren und Intimrasur | |
> Die "Perspektive Deutsches Kino" bietet auf der Berlinale seit zehn | |
> Jahren Alternativen zu herkömmlichen Sehgewohnheiten. Dieses Jahr u.a. | |
> mit "Die Ausbildung". | |
Bild: Die Eckpfeiler von Jans (Joseph K. Bundschuh) Normalität - Shopping, Aut… | |
BERLIN taz | Die "Perspektive Deutsches Kino" feiert Zehnjähriges. Und | |
kredenzt sich und uns zum runden Geburtstag einen ausnehmend üppigen | |
Blumenstrauß an aktuellem deutschem Filmschaffen. Die Kultur- und | |
Theaterwissenschaftlerin Linda Söffker, bislang Assistentin von | |
Ex-"Perspektive"-Leiter Alfred Holighaus, hat die Kuratorenschaft für die | |
Sektion übernommen, dabei aber keine 180-Grad-Wende versucht, wie sie sagt. | |
Wichtig sei ihr vor allem, weiter kinotaugliches Material aufzuspüren, das | |
eine Alternative zu herkömmlichen Sehgewohnheiten biete und dabei eine | |
unverwechselbare Handschrift trage. | |
Mit den für diese "Perspektive" aufgespürten zwölf Spiel- und | |
Dokumentarfilmen ist ihr das fast ausnahmslos gelungen. Es ist verblüffend, | |
wie überzeugend und selbständig dieser Jahrgang daherkommt - bloß zwei | |
Beiträge stechen mit kleinem Ärgernispotenzial heraus: "Rotkohl und | |
Blaukraut", eine überlange, zu sehr mit den Protagonisten kungelnde Doku | |
über zwei deutsch-türkische Mischfamilien im Ruhrpott und "Der Preis", ein | |
an mangelnder Plausibilität von Figuren und Rahmenhandlung laborierender | |
Spielfilm über einen jungen Architekten, der die Plattenbausiedlung seiner | |
Kindheit sanieren soll. | |
Viel wichtiger aber ist der ganze große Rest: Als sozusagen jüngster Film | |
wurde der auf den letzten Drücker fertig gestellte Dokumentarfilm | |
"Stuttgart 21 - Denk mal!" als "Gast" in die Perspektive eingeladen. Die | |
Filmstudierenden Lisa Sperling und Florian Kläger waren im Januar 2009 eher | |
zufällig mit Kamera bei der ersten größeren Demo gegen das Stuttgarter | |
Bahnhofsprojekt dabei. Produzent Peter Rommel, ein Bekannter von Lisas | |
Mutter, hielt die beiden an, am Thema dranzubleiben, öffnete er ihnen die | |
Augen für das, "was da bei euch vor der Haustür passiert". Herausgekommen | |
ist ein parteiischer Film, der Position bezieht und Befürworter des | |
unterirdischen Bahnhofs gar nicht erst zu Wort kommen lässt. Platt | |
bewegungspropagandistisch ist der Film trotzdem nicht, sondern das | |
liebevolle, aber durchaus einblicksreiche Zwischenstandsdokument einer | |
unwahrscheinlichen, auch die Stuttgarter selbst immer wieder überraschenden | |
Protestbewegung. | |
Die drei eigentlichen Dokus der Perspektive sind dann sämtlich noch toller: | |
Im "Vaterlandsverräter" kreist die Autorin Annekatrin Hendel den durchaus | |
eigenwilligen Schriftsteller, Frauenheld, Eremiten und Ex-Stasi-IM Paul | |
Gratzik ein, ohne ihr Verhältnis zu ihm näher zu bestimmen. Es ist | |
zumindest nicht das der Journalistin zu ihrem Gegenstand - tastend, eiernd, | |
hartnäckig, enorm kraftzehrend und oft für beide Seiten qualvoll betreibt | |
sie mit dem alten Mann eine Schicht um Schicht abtragende | |
Erinnerungsarbeit, die unendlich viel mehr ist als der Wunsch nach dem | |
Zutagefördern eines belastbaren Schuldeingeständnisses. | |
In "Utopia Ltd." begleitet Regisseurin Sandra Trostel die junge Hamburger | |
Band 1000 Robota durch die Zeit der Entstehung, Promotion und Betourung | |
ihres ersten Albums. Durch eine für eine Pop-Dokumentation ganz | |
erstaunliche Art der Distanz wahrenden Nähe, die nie in Fan-hafte | |
Jovialität kippt, gelingt es Trostel, ein konzises Porträt der Gruppe zu | |
erstellen sowie eine präzise Analyse der trostlosen Zustände im | |
Musikbusiness. | |
Langsamer, atmosphärischer fährt die Kamera in Nicolas Steiners | |
Schwarz-Weiß-Doku "Kampf der Königinnen" über ihre Topoi: Öhi-Bärte, | |
Kuhaugen, Motorroller. Anlässlich eines traditionellen Kuhkampfs in den | |
Schweizer Alpen erzählt der Film nur im sehr zurückgenommenen Modus der | |
teilnehmenden Beobachtung und ohne jede "Ach, diese verschrobenen | |
Provinzler"-Überheblichkeit von nichts weniger als einem funktionalen | |
gesellschaftlichen Miteinander. Wie Menschen vermittelt über ihre Tiere | |
sozial werden, wie sie umeinander werben und sich Anerkennung verschaffen, | |
das transportieren die oft fast impressionistischen Bilder wie unter einem | |
Brennglas. Und als die eigentlichen Heldinnen erscheinen trotzdem die Kühe: | |
In großformatigen Slo-Mo-Kampfszenen erledigen sie so scheinbar de- wie | |
großmütig ihren Job: einen Anlass dafür zu liefern, dass Menschen | |
Mensch-Sein üben können. | |
In der Fiction-Abteilung ragen zwei Arbeiten ganz besonders heraus. Zum | |
einen "Lollipop Monster", das Regiedebüt der Berliner Comic-Zeichnerin | |
Ziska Riemann. In einer extrem über- respektive unterkolorierten und auch | |
sonst strikt überzeichneten Alltagswelt entsteht eine ungewöhnliche | |
Freundschaft zwischen Ari, die aus einer bonbonbunten Heile-Welt-Familie | |
kommt, und Oona, die mit ihren Künstlereltern in Schwarz- und Grautönen | |
lebt. Inmitten einer schrillen Lolita-Kawai-Goth-Bildästhetik machen die | |
beiden erste Erfahrungen mit einer ganzen Menge und mausern sich zu den | |
süßsauren "Heavenly Creatures" der deutschen Gegenwart. Orkusdüster und | |
grellkomisch zugleich - "Lollipop Monster" ruht mit einer abgehangenen | |
Stimmigkeit in sich, die das hysterisiert erlebte Pubertäre als | |
superautonom erscheinen lässt. | |
Und dann, als ästhetisches Gegenmodell sozusagen, ist da noch "Die | |
Ausbildung" von Dirk Lütter. Der Film handelt von Jan, einem 20-jährigen | |
Azubi in einem mittelständischen Betrieb. Das fade Grau-Beige des | |
Großraumbüros legt sich genauso in die Bilder wie das "Alles im Griff" | |
einer kundendienst- und performanceorientierten Arbeitswelt. Jan wird ganz | |
langsam und sorgfältig als Akteur in einem für ihn überkomplexen System | |
herausgeschält: Seine Karriereträume und Zukunftsängste machen ihn | |
korrumpierbar, und die Eckpfeiler seiner Normalität - Shopping, Autofahren | |
und Intimrasur - helfen ihm nicht bei der Erkenntnis, dass Handlungen auch | |
moralische Konsequenzen haben. Was er mit dieser Erkenntnis anfangen soll, | |
weiß er nicht. Was sich jetzt deutlich dröger liest, als es anzuschauen | |
ist. | |
Programm: [1][www.berlinale.de] | |
11 Feb 2011 | |
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## AUTOREN | |
Kirsten Riesselmann | |
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