# taz.de -- Radikale Erschöpfungsgeschichte: Die Welt erlischt | |
> Dieses Schwarzweiß raubt den Atem: "A Torinói ló" (The Turin Horse) von | |
> Bela Tarr (Wettbewerb) ist ein Denkmal für und gegen den Tod. | |
Bild: Der Weg zum Brunnen. | |
In Nebel und Wind ein Mann, sein Pferd und hintendran eine Karre. An der | |
Seite fährt die Kamera mit. Nah dran erst, dann schieben sich kahle Äste | |
und Zweige dazwischen. Minutenlang geht die Fahrt, dann kommen der Mann, | |
sein Pferd und die Karre hintendran in einem Haus in der Einöde an. Da ist | |
seine Tochter. Sturm tost, das Pferd wird abgeschirrt, die Karre in einer | |
verfallenen Scheune verstaut. Der linke Arm des Mannes ist gelähmt, sie | |
hilft ihm beim Anziehen, sie hilft ihm beim Ausziehen, sie bereitet ihm | |
seine Kartoffel, sie holt das Wasser vom Brunnen, sie schürt das Feuer, sie | |
blickt aus dem Fenster. Der Mann grunzt, flucht, trinkt Pálinka, geht ins | |
Bett und liegt dann da wie der "Tote Christus" von Andrea Mantegna. | |
Dies alles geschieht am ersten Tag, fünf weitere Tage folgen, an denen sich | |
mit leichten Verschiebungen meist dasselbe ereignet. Einmal kommt einer und | |
spricht eine Suada zum Verfall aller Dinge. "Quatsch", sagt der Mann, der | |
im Haus wohnt. "Hör auf damit." Der andere stapft davon. Einmal kommen | |
Zigeuner, die werden verjagt. | |
Es mehren sich Zeichen des Unglücks. Das Pferd rührt sich nicht von der | |
Stelle, verweigert das Fressen. Der Brunnen vertrocknet. Die Tochter hilft | |
dem Vater beim Anziehen, beim Ausziehen, sie bereitet ihm seine Kartoffel, | |
sie holt kein Wasser mehr aus dem Brunnen, sie schürt das schwächer | |
werdende Feuer. Einen Fluchtversuch brechen Vater und Tochter wieder ab. | |
Am Abend des sechsten Tags stirbt dann die Welt. "The Turin Horse" ist die | |
Umkehr der Schöpfungs-, nämlich eine radikale Erschöpfungsgeschichte. Wo | |
wenigstens etwas war, der Mann, das Haus, die Tochter, das Pferd, das Tosen | |
des Sturms in der Einöde, immerhin Tohuwabohu, also Wüste und Leere des | |
Schöpfungsbeginns, ist nun nichts mehr, auch Satan nicht oder Tango. | |
Die Legende von Nietzsche | |
Im Jahr 1889 trat der Philosoph Friedrich Nietzsche in Turin auf die Straße | |
und fiel einer von ihrem Besitzer geprügelten Schindmähre tränenüberströmt | |
um den Hals. So geht die Legende, und so wird sie von einer Erzählerstimme | |
aus dem Off zu Beginn des Films auch erzählt. Nietzsche war von dem Tag an | |
geistig umnachtet und wurde die zehn verbleibenden Jahre seines Lebens von | |
der Mutter und den Schwestern gepflegt. Die Spur des Pferds und seines | |
Besitzers - Ohlsdorfer heißt er hier - verliert sich abseits der | |
historischen Überlieferung. | |
"The Turin Horse" aber erstattet in atemberaubenden Schwarzweißbildern von | |
Fred Keleman Bericht vom Pferd und seinem Besitzer. Düster und schön | |
zugleich kreisen Akkordeon und Cello in der Musik von Mihály Vig - wie | |
stets entstand sie zuerst, und die Szenen des Films wurden dann zur Musik | |
komponiert. János Derzsi und Erika Bok gehören als Schauspieler zum seit | |
Jahren eingeschworenen Team. | |
Groß ist "The Turin Horse", weil er von Anfang bis Ende konsequent bei sich | |
bleibt und so je länger desto stärker einen Sog Richtung Abgrund | |
entwickelt. Es wölbt sich über dem Sturm und dem Pferd und dem Haus und dem | |
Leben der Menschen darin kein metaphysischer Himmel, auch die Bilder des | |
Films selbst sind in erster Linie nur das, was sie sind. Ohlsdorfers auf | |
die Kartoffel geknallte Hand, das Schirren des Pferdes, das vom Sturm ins | |
Haar der Tochter gewehte Laub: All das ist in seiner Sinnlichkeit von | |
dieser und keiner anderen Welt. Der Untergang dieser Welt als Erlöschen hat | |
nicht mehr und nicht weniger zu bedeuten als der Tod jedes einzelnen | |
Menschen. Gestorben wird. "The Turin Horse" findet, nur zum Schein | |
unerschütterlich, erschütternde Bilder dafür. | |
Ende des Kinos | |
"Mit diesem Film endet das Kino", sagt Béla Tarr auf der Pressekonferenz. | |
"Ich jedenfalls habe ihm nichts mehr hinzuzufügen." Die anderen machen ja | |
immer weiter, da kann man noch so sehr glauben, dass mit einem selbst die | |
Welt untergeht. Ein großes Denkmal für und gegen den Tod ist "The Turin | |
Horse" aber schon. | |
20. 2., 15 Uhr, Berlinale-Palast | |
17 Feb 2011 | |
## AUTOREN | |
Ekkehard Knörer | |
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