# taz.de -- Aupair für ältere Frauen: Die beste Zeit des Lebens | |
> Die Agentur Granny Aupair vermittelt ältere deutsche Frauen als | |
> Kinderbetreuerinnen an Gastfamilien überall auf der Welt. Die Nachfrage | |
> ist groß. | |
Bild: Starke Hierarchien, andere Lebenswelten - in Indien als Aupair-Granny zu … | |
NEU-DELHI taz | Das Besondere ist, was hier nicht passiert: Mr Singh fährt | |
den Wagen vor, aber er steigt nicht aus. Er hält Lucie Flach-Siebenlist | |
nicht die Tür auf. Und sie setzt sich nicht auf die Rückbank, sondern geht | |
ganz selbstverständlich zur Vordertür und setzt sich auf den Beifahrersitz. | |
So weit zu kommen war harte Arbeit. "Am Anfang hat Mr Singh mich behandelt, | |
als wäre er mein Diener", sagt Lucie Flach-Siebenlist. Aber das wollte sie | |
nicht - und hat es ihm in mühevoller Überzeugungsarbeit klargemacht. Für | |
sie ist es ungewöhnlich genug, dass ihre Gastfamilie, bei der sie in | |
Neu-Delhi wohnt, überhaupt Personal beschäftigt. Da will sie wenigstens | |
verhindern, dass Mr Singh sich wie ein Untergebener fühlt. Die Zeit in | |
Indien bedeutet für sie vor allem ein Abenteuer, aber auch eine Aufgabe: | |
Das stark hierarchische System im Land stört sie. Deshalb setzt sie sich | |
darüber hinweg, wo sie nur kann. | |
Lucie Flach-Siebenlist ist 59 Jahre alt und Au-pair-Mädchen. Seit September | |
vergangenen Jahres arbeitet sie bei einer alleinerziehenden Deutschen in | |
Neu-Delhi. Deren achtjährigen Sohn holt sie jeden Tag von der Schule ab und | |
hilft ihm bei den Hausaufgaben, abends liest sie ihm Geschichten vor. | |
Keine Lust aufs Omasein | |
Möglich gemacht hat das die Agentur Granny Aupair aus Hamburg. Michaela | |
Hansen hat sie vor einem Jahr gegründet. Während andere Agenturen | |
ausschließlich junge Mädchen vermitteln, spricht sie ältere Frauen an - und | |
hat damit einen Riesenerfolg. Viele haben offensichtlich Fernweh, | |
inzwischen hat Michaela Hansen etwa 150 Bewerberinnen in ihrer Kartei. Zu | |
Hansens Erfolg trägt sicherlich bei, dass Frauen zwischen 60 und 70 heute | |
etwas erleben wollen. Sie können mit dem Rollenmodell Dauerwellen-Omi | |
nichts anfangen. Und den Gastfamilien ist eine lebenserfahrene Frau oft | |
lieber als eine Abiturientin. | |
So hat Michaela Hansen schon Kundinnen nach Kanada, Australien, Namibia, | |
England, Spanien, Frankreich, Italien, Indien und Jordanien vermittelt. | |
"Und das Angebot von Gastfamilien aus aller Welt wächst ständig", sagt sie. | |
Lucie Flach-Siebenlist bittet Mr Singh, sie zum Khan Market zu fahren. Dort | |
mag sie die Geschäfte und Cafés, und sie hat noch Zeit, bis sie den Jungen | |
von der Schule abholen muss. Mr Singh und sie wirken vertraut miteinander - | |
er ein Sikh mit Turban und schwarzem Bart, sie eine gelassene, | |
unerschrockene Frau mit leicht bayerischer Melodie in der Stimme. | |
Auf Englisch erklärt sie Mr Singh, dass er sie an dem Markt nur absetzen | |
solle. Er brauche nicht auf sie zu warten, sie wolle einige Stunden auf dem | |
Markt bleiben. Als ihr das Wort "maybe" nicht einfällt, sagt sie einfach | |
"vielleicht" und spricht unbeirrt weiter, Mr Singh wird sie schon | |
verstehen. | |
Auf der Dachterrasse des "Café Turtle" bekommt man köstlichen Chai. Die | |
Motorengeräusche und das Hupen der Autos und Rikschas auf der Straße unten | |
sind nur entfernt zu hören. An den Tischen sitzen westliche Ausländer und | |
eher unkonventionelle Inder, zwei Frauen haben kurze Haare - hierzulande | |
eine Seltenheit. Hier hat Lucie Flach-Siebenlist ihren Ort gefunden. Die | |
Suche danach sei schwierig gewesen, sagt sie. Denn anfangs war sie in | |
Kreise geraten, in denen sie sich nicht wohlfühlte. | |
Mit ihrer Gastfamilie und anderen Ausländern aus dem Westen verbrachte sie | |
manchmal die Wochenenden. "Man fährt auf dem Weg zum Stadtrand an einem | |
Slum nach dem anderen vorbei. Irgendwann schwingt ein Tor auf, und man | |
fährt in einen Park mit einem hochherrschaftlichen Haus." Da gebe es Pfauen | |
und Papageien, "der Rasen ist perfekt getrimmt, und Angestellte servieren | |
das Essen". | |
Arme vom Auto aus zu betrachten kam Lucie Flach-Siebenlist seltsam vor. So | |
fuhr sie in einen der Slums und besuchte dort ein soziales Projekt. Sie | |
freundete sich mit den Wanderarbeitern auf der Baustelle neben dem Haus | |
ihrer Gastfamilie an. Und sie brachte die Putzfrau der Familie dazu, mit | |
ihr am Tisch zu essen - und nicht mehr auf dem Fußboden kauernd wie zuvor. | |
Manche warnten Lucie Flach-Siebenlist, die Armen würden sie ausnutzen. Erst | |
an diesen Reaktionen merkte sie, dass ihr Verhalten für manche Menschen in | |
Indien überhaupt nicht selbstverständlich ist. | |
Zum ersten Mal länger ins Ausland | |
Um soziales Engagement geht es nicht allen Frauen, die sich bei Granny | |
Aupair melden. Manche achten bei der Wahl des Reiseziels vor allem darauf, | |
dass dort die Sonne scheint. Anderen verhilft der Aufenthalt zu einem | |
ungeplanten Flirt: Eine Frau ging nach Kanada, um dort für einen älteren | |
Mann zu kochen. Vor ihrer Abreise verstand sie sich am Telefon und in | |
E-Mails schon so gut mit ihm, dass sie nur ein Hinflugticket buchte. | |
"Gemeinsam haben die meisten Frauen, dass sie früher nie die Chance hatten, | |
für längere Zeit ins Ausland zu gehen", sagt Michaela Hansen. "Das wollen | |
sie jetzt nachholen." | |
Das ist auch bei Lucie Flach-Siebenlist so. Sie war schon als junge Frau | |
auf der Flucht vor der Enge ihrer bayerischen Heimat: Mit 18 wurde sie | |
schwanger und heiratete - für sie der einzige Weg, aus ihrem | |
spießbürgerlichen Elternhaus auszubrechen. Doch die Ehe war nicht gut, nach | |
vier Jahren verließ sie ihren Mann und zog ihre zwei Kinder allein groß, | |
arbeitete mal in der Verwaltung einer Klinik, mal in einer | |
Zeitungsredaktion. An Auslandsreisen war bei all dem Stress nicht zu | |
denken, dabei wollte sie unbedingt die Welt entdecken. Sie behalf sich mit | |
Musik. Mit Chansons aus Frankreich und Jazz aus Amerika hörte sie zumindest | |
den Klang anderer Orte. | |
Jetzt ist die Zeit fürs Reisen gekommen, ihre Kinder sind erwachsen und | |
haben eigene Familien. In einem Internetportal erfuhr sie zufällig von der | |
Agentur Granny Aupair und bewarb sich kurzerhand. Sie bekam drei | |
Gastfamilien zur Auswahl: in China, London und Neu-Delhi. Nach China wollte | |
sie nicht wegen der Menschenrechtsverletzungen. Der Job in London schien | |
ihr zu anstrengend - die Familie hatte ein zweijähriges Kind, außerdem | |
befürchtete sie, Putzarbeiten erledigen zu müssen. "Aber Indien passte | |
irgendwie", sagt sie. "Ich hatte in der Schulzeit einen indischen | |
Brieffreund, vielleicht deshalb." | |
Bei der Familie in Neu-Delhi kümmert sie sich nun ausschließlich um den | |
achtjährigen Sohn, fürs Putzen und Kochen gibt es andere Angestellte. Und | |
sie hat ausgehandelt, dass die Gastfamilie ihren Flug zahlt, zusätzlich | |
bekommt sie jeden Monat ein kleines Taschengeld. So kann sie von ihrer | |
Rente die Miete ihrer Wohnung in Deutschland zahlen, und vom Taschengeld in | |
Indien kann sie sich ab und zu etwas leisten. | |
Mit ihren Freundinnen, die sie in Neu-Delhi gefunden hat, geht sie gern auf | |
Jazzkonzerte oder ins Theater. Lucie Flach-Siebenlist will unbedingt hier | |
sein, in diesem Café, in dieser Stadt, in diesem Land. Es ist das | |
Abenteuer, nach dem sie sich schon lange gesehnt hat. So blieb sie trotz | |
des Denguefiebers, das sie bekam, und trotz anfänglicher Schwierigkeiten | |
zwischen ihr und ihrer Gastgeberin. | |
Sich bei den Gastfamilien Respekt zu verschaffen gehört eben manchmal zu | |
den Aufgaben eines Au-pairs - ob nun alt oder jung. Nach Deutschland wollte | |
Lucie Flach-Siebenlist deswegen noch lange nicht zurück. "Sich Träume zu | |
erfüllen ist ja immer mit Risiken verbunden", sagt sie mit einer | |
Gelassenheit, die sie von einem jungen Au-pair-Mädchen unterscheidet. | |
Furcht vor dem Sommer | |
Als es Zeit wird, den Jungen von der Schule abzuholen, ruft Lucie | |
Flach-Siebenlist Mr Singh an. Doch er steht schon unten, dort hat er die | |
ganzen drei Stunden auf sie gewartet. Beim nächsten Mal wird sie ihm | |
trotzdem wieder sagen, dass er ruhig wegfahren könne. Mit dieser | |
Hartnäckigkeit hat sie ihn schließlich schon dazu gebracht, ihr nicht mehr | |
die Tür aufzuhalten - und sogar mit ihr ins Theater zu gehen. Das ist ihr | |
Triumph. "Ich bin doch nur der Fahrer", habe er immer wieder gesagt, | |
erzählt Lucie Flach-Siebenlist. Aber dann sei er doch mitgekommen, | |
"Siddharta" von Hesse wurde gespielt. | |
"Jetzt ist die beste Zeit meines Lebens", sagt Lucie Flach-Siebenlist. Im | |
März wird sie wieder zurückgehen nach Deutschland, auch wenn es ihr | |
schwerfällt, den Jungen zu verlassen. Er ist wie ein Freund für sie | |
geworden. Aber sie fürchtet die Hitze des indischen Sommers. Dafür sucht | |
sie schon das nächste Reiseziel. "Sonst wird mein Leben langsam zu kurz für | |
alles, was ich noch erleben will." Die Agentur hat ihr Einladungen von | |
Gastfamilien in der Toskana, in Rom und in Portugal geschickt. Bei einer | |
wird sie wohl den Sommer verbringen. Auch für die Zeit danach hat Lucie | |
Flach-Siebenlist schon ein Ziel: zurück zu ihrer Familie in Neu-Delhi. | |
18 Feb 2011 | |
## AUTOREN | |
Susanne Schäfer | |
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