# taz.de -- Tage des Zorns: Algeriens kleine Revolten | |
> Im Nachbarland Tunesiens gärt es schon lange. Allein im vergangenen Jahr | |
> kam es zu mehr als zehntausend Demonstrationen gegen die Regierung. | |
Bild: Gemeinsame Proteste = Solidarität? | |
Anfang 2011 sollten in Algerien einige steuerpolitische Neuerungen in Kraft | |
treten. Ihr Ziel: die Bekämpfung der Schattenwirtschaft. Bislang mussten | |
nur Unternehmen offizielle Rechnungen ausstellen, einschließlich der | |
Mehrwertsteuer, die sie sich vom Staat zurückerstatten lassen können. | |
Mit den neuen Gesetzen gilt das für alle und jeden und damit auch für die | |
vielen Straßenverkäufer, die in Algeriens informellem Handelssektor ihr | |
Auskommen haben. Auch ihnen will die Regierung nun 17 Prozent | |
Mehrwertsteuer abknöpfen. Darüber hinaus müssen ab jetzt alle Zahlungen | |
über 500.000 Algerische Dinar (rund 5.100 Euro) per Scheck durchgeführt | |
werden. Die Machthaber in Algier hoffen, mit diesen Maßnahmen den Geldfluss | |
besser kontrollieren und die staatlichen Einnahmen erhöhen zu können. | |
Die Bevölkerung, die ohnehin seit langem mit sehr wenig Geld auskommen muss | |
(das monatliche Durchschnittseinkommen liegt bei 15.000 Dinar, etwa 150 | |
Euro), bekam die Auswirkungen dieser Maßnahmen schnell zu spüren. Die | |
Preise schnellten in die Höhe, nachdem sich die staatlich subventionierten | |
Lebensmittel wie Mehl, Speiseöl und Zucker schon in den Monaten vorher | |
extrem verteuert hatten, weil die Weltmarktpreise anzogen und der Staat die | |
Preiserhöhungen zumindest teilweise an Händler und Verbraucher weitergeben | |
wollte. | |
Die neue Regelung belastete insbesondere alle, die von der | |
Schattenwirtschaft leben. So ließen die Proteste nicht lange auf sich | |
warten: Am 4. Januar 2011 kam es in zahlreichen Städten des Landes zu | |
gewaltsamen Ausschreitungen und Zusammenstößen mit der Polizei. Aber das | |
ist für Algerien nichts Neues. Die Gendarmerie Nationale meldete allein für | |
das Jahr 2010 landesweit 11 500 kleinere und größere Unruhen und | |
Demonstrationen. (1) | |
Wieder einmal hatten die Machthaber über die Köpfe der Menschen hinweg | |
entschieden - ohne Rücksicht auf diejenigen, die von der Reform betroffen | |
sind, und ohne sich um Begründungen zu bemühen. Dabei hätte sich der | |
Versuch, diese steuerliche Maßnahme zu erklären, in diesem Fall durchaus | |
gelohnt. | |
Denn die neu eingeführte Pflicht, alle Arbeitnehmer anzumelden, könnte im | |
Prinzip auch zu einer höheren gesellschaftlichen Solidarität beitragen. | |
Bisher sind nach Angaben des Allgemeinen Gewerkschaftsverbands der | |
algerischen Arbeiter (UGTA) eine Million Arbeiternehmer nicht gemeldet. (2) | |
Gegen die Schattenwirtschaft hätte man jedoch besser schrittweise vorgehen | |
und dabei gleichzeitig ein System zur Umverteilung und einen unabhängigen | |
Bankensektor aufbauen sollen. Der Vorschlag stand im Raum, doch auf die | |
Wirtschaftsfachleute, die ihn vorbrachten, hat niemand gehört. | |
Die informellen Netze der Kleinhändler und Straßenverkäufer, genannt | |
trabendo (3), sind in Algerien ein wichtiger Wirtschaftsfaktor. Entstanden | |
sind sie Mitte der 1980er Jahre, nach dem Absturz des Ölpreises, als es im | |
Land mehr oder weniger an allem mangelte. Damals entwickelte sich der | |
Schwarzhandel mit europäischen Importprodukten. Heute ist das gigantisch | |
gewordene Netz des informellen Straßenhandels die Lebensgrundlage für | |
tausende junge Menschen. (4) | |
Daher waren es auch überwiegend junge Leute, die die Sicherheitskräfte in | |
den vergangenen Wochen so lange attackierten, bis der Premierminister am 8. | |
Januar die neuen Verordnungen wieder aufhob. Bis zur Abstimmung über ein | |
Nachtragsfinanzgesetz im August 2011 wurden die neuen Regeln für die | |
Mehrwertsteuer ausgesetzt, die Einfuhrzölle für einige Grundnahrungsmittel | |
aufgehoben und die Gewinne der Produzenten für Grundnahrungsmittel von der | |
Besteuerung befreit. | |
Die jüngsten Zusammenstöße zeigen, wie stark in dieser sich selbst | |
überlassenen Gesellschaft der Einfluss der informellen Netze ist. Reform | |
heißt unter den algerischen Bedingungen immer, dass sich die Situation der | |
Ärmsten noch mehr verschlechtert oder die staatlichen Stellen, welche die | |
strukturelle Korruption kontrollieren sollen, an Einfluss verlieren. | |
Und die Proteste machen erneut deutlich, wie sehr sich im Verlauf der | |
vergangenen zehn Jahre die Lebensbedingungen für die kleinen Leute | |
verschlechtert haben und dass die politischen Eliten von ihrem Volk nicht | |
anerkannt werden. Wo die Machthaber nicht das vom Staat angeblich | |
verkörperte Allgemeininteresse verfolgen, sondern die öffentlichen Belange | |
permanent nur ihren eigenen Interessen unterordnen, ist es schwierig bis | |
unmöglich, die Bevölkerung auf gemeinsame Werte zu verpflichten. | |
In der Vergangenheit trat der algerische Staat zugleich als Bezwinger, | |
Beschützer und Ernährer auf. Heute ist er nicht mehr in der Lage, diese | |
Rolle auszufüllen, was zur Folge hat, dass die meisten Algerier sich weder | |
für die öffentlichen Angelegenheiten interessieren noch verantwortlich | |
fühlen. So ist zum Beispiel die Wahlbeteiligung in den letzten zehn Jahren | |
stetig zurückgegangen. Mehr und mehr verfestigte sich die Überzeugung, dass | |
persönliche Ziele nur über informelle Wege zu erreichen sind, was wiederum | |
die gesellschaftlichen Dysfunktionen verstärkte und letztlich zu einem | |
unverbundenen Nebeneinander von offizieller Politik und sozialer Dynamik | |
führte. | |
Die zahllosen Beziehungsgeflechte aus privaten Netzwerken und Tauschbörsen | |
durchziehen sämtliche Bereiche der Gesellschaft, und alle machen mit, seien | |
es Lehrer, Händler, Militärs oder Beamte. Das Ganze funktioniert nach dem | |
altbekannten Prinzip "Eine Hand wäscht die andere". Der eine braucht sie, | |
um etwa in einer Behördensache den Verwaltungsweg abzukürzen, der andere, | |
um sich Straffreiheit zu verschaffen. | |
## Korruption als Dienstleistung | |
Die heutige "Gesellschaft der Parallelräume" ist das Resultat eines | |
langsamen Niedergangs, der sich über die fast fünf Jahrzehnte seit der | |
Unabhängigkeit von 1962 hinzieht. Im Grunde hat in Algerien nach dem | |
Befreiungskrieg gegen die französische Kolonialmacht nie ein richtiges | |
Regierungssystem existiert. Vielmehr etablierte sich eine staatliche | |
Ordnung, die den Bürger als Bedrohung empfand. Weil die Leute ihre | |
Bedürfnisse auf legalem Wege nicht befriedigen können, lassen sie sich | |
alles Mögliche einfallen, um die Gesetze zu umgehen und den Staat zu | |
beschummeln. Gegen diesen sozialen Habitus ist schwer anzukommen - wenn | |
Korruption als Dienstleistung betrachtet wird. | |
Zwar kritisieren die Algerier bei jeder sich bietenden Gelegenheit die | |
Maßnahmen des dawla (5), aber sie übersehen gänzlich den Zusammenhang | |
zwischen den Problemen, die sie mit ihrem eigenen Verhalten schaffen, und | |
dem Missmanagement der politischen Führung. Der Antagonismus zwischen Staat | |
und Bevölkerung wurde erst in dem Moment sichtbar, als er mit dem Erfolg | |
der Islamisten eine politische Form annahm. (6) In Wirklichkeit ist er | |
natürlich viel älter. | |
Algerien ist ein reiches Land (7) mit einer immer ärmer werdenden | |
Bevölkerung, in dem es um die staatsbürgerlichen Tugenden so schlecht | |
bestellt ist, dass der nationale Zusammenhalt gefährdet ist. Bis Anfang der | |
1990er Jahre beruhte das "algerische Modell" auf drei Säulen: Bildung für | |
alle, Zugang zum kostenlosen Gesundheitssystem und eine Quasi-Jobgarantie | |
in den Unternehmen des öffentlichen Sektors. Dann kam der Kampf gegen die | |
bewaffneten Islamisten und die vom IWF (8) auferlegten | |
Strukturanpassungsprogramme, denen das Modell nicht standhalten konnte. | |
Seither sieht man vermehrt Bettler und Prostituierte auf den Straßen. | |
Krankheiten wie Tuberkulose, Typhus und Cholera sind wieder aufgetaucht - | |
vor allem nach dem Erdbeben vor acht Jahren im östlich von Algier gelegenen | |
Boumerdes. Weil es an Impfstoff fehlt und im Gesundheitswesen chaotische | |
Verhältnisse herrschen, breiten sich Krankheiten aus und sogar Seuchen, die | |
schon als besiegt galten. | |
In Tunesien hat sich gezeigt, dass Diktatoren auf ihre Mittelsmänner | |
innerhalb der Gesellschaft angewiesen sind. Als diese Beziehung in die | |
Brüche ging, konnte sich das Regime des Zine El Abidine Ben Ali nicht mehr | |
lange halten. | |
Es wäre allerdings gewagt, zu viele Parallelen zu Algerien zu ziehen. In | |
beiden Ländern hat - wie in der gesamten arabischen Welt - eine autoritäre | |
Regierung seit Jahren keine nennenswerte Opposition zugelassen. Die nach | |
der Oktoberrevolte 1988 (9) in Algerien eroberten Freiräume sind in den | |
Jahren des Kampfs gegen die Islamisten wieder beschnitten worden. Und der | |
Bürgerkrieg der 1990er Jahre hat die "Demokraten" des Landes entzweit. Der | |
mörderische Konflikt zwischen dem algerischen Militär und den Islamisten | |
hat die Gesellschaft gespalten und Parteien und Gruppierungen, die die | |
antiislamistischen Repressionen ertragen mussten, an den Rand gedrängt. Das | |
"schwarze Jahrzehnt" hat jenseits der Regimeparteien Nationale | |
Befreiungsfront (FLN) und Nationaler Demokratischer Zusammenschluss (RND) | |
ein politisches Vakuum hinterlassen. Außer der Front der Sozialistischen | |
Kräfte (FFS) existiert praktisch keine Oppositionspartei, die genug | |
Rückhalt in der Bevölkerung hat, um die Forderungen der breiten Masse zu | |
vertreten. | |
Für das Regime in Algier stellen die periodisch auftretenden Proteste kein | |
ernsthaftes Problem dar - zumindest solange ein politisches Forum fehlt. | |
Ein Regime, das alle bisherigen Aufstände blutig niedergeschlagen hat, | |
braucht sich von massenhaft bekundeter Unzufriedenheit offenbar nicht | |
bedroht zu fühlen. Schließlich war, anders als in Tunesien, das algerische | |
Militär über lange Jahre mit dem Regime identisch. | |
Unabhängig von der Frage, welche Optionen die algerischen Machthaber in der | |
Hinterhand haben, ist es für die Opposition höchste Zeit, die | |
unübersichtlichen Forderungen der Straße zu politisieren. Das wird | |
vermutlich eine Weile dauern. Aber der Traum von einer maghrebinischen | |
Perestroika ist erst einmal in der Welt. | |
Fußnoten: | |
(1) Siehe "Le gouvernement a-t-il saisi le message de la rue?", "Liberté, | |
Algier, 27. Dezember 2010. | |
(2) Erklärung des Generalsekretärs der UGTA, Nachrichtensendung von Chaîne | |
III, 10. Januar 2011. | |
(3) Vom italienischen Wort "contrabando" abgeleitet: das Netzwerk, das den | |
Schwarzmarkt mit Waren versorgt. | |
(4) 75 Prozent der algerischen Bevölkerung sind laut IWF unter 25 Jahre | |
alt, die Jugendarbeitslosigkeit liegt bei 30 Prozent. | |
(5) "Dawla" ist das arabische Wort für den "Staat" und seine Symbole. | |
(6) Erst Ende der 1980er Jahre wurde in Algerien das Mehrparteiensystem | |
eingeführt. Als sich bei der Parlamentswahl 1991/92 ein Sieg der | |
Islamischen Heilsfront (Front islamique du salut, FIS) abzeichnete, wurde | |
die Wahl abgebrochen. Im März 1992 sollte die FIS aufgelöst werden, die | |
daraufhin zum bewaffneten Kampf aufrief. | |
(7) Ende 2008 hatte Algerien aufgrund seiner Energieexporte, vor allem | |
Richtung Europa, 143 Milliarden Dollar an Devisenreserven erwirtschaftet. | |
(8) Ab Mitte der 1990er Jahre unterzeichnete Algerien mehrere | |
Strukturanpassungsabkommen mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF) und | |
der Weltbank. | |
(9) Im Oktober 1988 kam es im ganzen Land zu gewaltsamen Zusammenstößen | |
zwischen der Polizei und tausenden Jugendlichen, die gegen die desaströsen | |
Lebensbedingungen protestierten. Bei der Niederschlagung der Proteste | |
starben nach offiziellen Angaben 176 Menschen. | |
Aus dem Französischen von Jakob Horst | |
18 Feb 2011 | |
## AUTOREN | |
Kader Abderrahim | |
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