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# taz.de -- Debatte Flüchtlingspolitik Europa: Lehren aus Lampedusa
> Flüchtlinge haben das Recht auf ein ordentliches Asylverfahren. Europa
> sollte ihnen aber auch den Zugang zum Arbeitsmarkt erleichtern.
Es war ein Bild mit Symbolkraft, das in diesen Tagen über Europas
Nachrichtenkanäle flimmerte. Erschöpft, aber mit hoffnungsvollem Gesicht
steht ein junger Tunesier in einer langen Warteschlange auf der Insel
Lampedusa. Er trägt eine weiße Sportjacke - auf dem Rücken der Schriftzug
"Italia".
Doch Italien ist überfordert; die Situation auf Lampedusa verschärft sich
jeden Tag dramatisch. Zu Recht fordert Italien Hilfe und Solidarität. Die
EU ist nicht zuletzt auch eine Solidargemeinschaft. Das scheinen diejenigen
vergessen zu haben, die jetzt nach Strafen, Sanktionen oder gar
Schengen-Ausschluss rufen, sollte Italien Flüchtlinge auf eigene Faust
weiterreisen lassen.
Dieses Denken darf nicht Mehrheitsmeinung werden. Asyl ist ein Recht -
genauer gesagt: ein Recht, das in unserem Grundgesetz verankert ist - und
keine Gnade. Es geht nicht darum, die Flüchtlinge "hereinzulassen", sondern
darum, sicherzustellen, dass sie ein ordentliches Asylprüfungsverfahren
bekommen und währenddessen nicht unter menschenunwürdigen Bedingungen in
Flüchtlingslagern darben müssen.
Die Freiheit der Flüchtlinge
Bereits 1954 trat die Genfer Flüchtlingskonvention in Kraft. Sie war aus
dem Gedanken geboren, Menschen, die verfolgt werden, die Chance auf ein
neues Leben zu ermöglichen. Diese Menschen brauchen ihre "Lebenschance".
Das verstand der liberale Soziologe Lord Dahrendorf einst unter Freiheit:
In der Gesellschaft muss jeder die Chance haben, sein Recht auf
gesellschaftliche Teilhabe verwirklichen zu können. Deshalb muss jeder, der
einen Antrag auf Asyl stellt, auch sicher sein, dass dieser in einem
ordentlichen Verfahren geprüft wird. Wir können Menschen nicht einfach
wegschicken, weil sie wahrscheinlich "nur" Wirtschaftsflüchtlinge sind.
Genau hier stehen wir bei dem aktuellen Problem in Lampedusa: Entweder alle
Mitgliedstaaten der EU unterstützen Italien - oder wir akzeptieren die
Aussetzung des Asylrechts.
Die Gemeinschaft ist in der Pflicht. Daher muss angesichts der Notlage auch
Deutschland unkompliziert helfen und anbieten, Asylsuchende aufzunehmen, um
dann ein ordentliches Verfahren zu gewährleisten. Dies würde keineswegs die
Integrationskraft unseres Landes überfordern.
Die eigentliche Debatte aber muss über den gegenwärtigen Stand der
sogenannten Dublin-Verordnung geführt werden: Sie schreibt vor, dass ein
Asylsuchender seinen Antrag in dem Land stellen muss, in dem er angekommen
ist. Eine solche Regelung ist unter heutigen Gesichtspunkten nicht mehr
haltbar. Werfen wir einen Blick auf die Zahlen: 2009 wurden in der gesamten
EU 260.730 Asylbewerber registriert. Davon trugen in absoluten Zahlen
Deutschland, Frankreich und Großbritannien die meisten Bewerber. Sieht man
sich aber das Verhältnis von Asylbewerbern zur Einwohnerzahl an, dann
stellt man fest, dass in Griechenland auf 1 Million Einwohner 1.415
Asylsuchende kommen, in Zypern 3.345, in Malta gar 5.765. Demgegenüber
sprechen wir in Frankreich von 740 und in Deutschland von 390!
Asyl nur in Süddeutschland?
Geht man einen Schritt weiter und schaut auf die Anerkennungszahlen, wird
schnell klar, dass wir innerhalb der EU dringend einen neuen
Verteilungsschlüssel für Flüchtlinge brauchen. Insgesamt wurden 26,9
Prozent aller in der EU gestellten Asylanträge positiv beschieden: In
Griechenland 1,1 Prozent, in Deutschland 36,4 Prozent und Italien 38,3
Prozent.
Die Innenminister der EU-Staaten müssen schleunigst über Unterstützung der
südlichen Länder sprechen. Die Kombination eines Verteilungsschlüssels und
direkter Hilfen vor Ort kann ein mögliches Szenario sein. Deutschland
könnte eine Vorreiterrolle übernehmen, denn hier gibt es bereits einen
bundesinternen Verteilungsschlüssel. Man stelle sich vor, in Deutschland
müssten ausschließlich die südöstlich gelegenen Bundesländer wie Bayern und
Sachsen Asylsuchende aufnehmen - schließlich kommen diese meist über
Osteuropa in unser Land: das Geschrei wäre groß, die Akzeptanz gering.
Arabischer "Wind of Change"
Die Debatte sollte deshalb weniger emotional geführt werden. Der arabische
"Wind of Change" sollte auch uns Mut machen, ein grundlegendes Problem
anzupacken, das die Zukunft Europas betrifft. Wir sollten die Diskussion
nicht auf die Frage reduzieren, ob die Flüchtlinge tatsächlich
"Wirtschaftsflüchtlinge" oder doch politische Flüchtlinge sind.
Lange haben sich Deutschland und die EU gegenüber Menschen aus Drittstaaten
abgeschottet. Durch den demografischen Wandel werden Fachkräfte weniger.
Langsam setzt ein Umdenken ein. Wir sind auf qualifizierte Zuwanderung
angewiesen. Die Tunesier, die jetzt auf Lampedusa sitzen, sind zum großen
Teil gut ausgebildete, oft studierte, zielstrebige junge Menschen. Auch
Asylsuchende und anerkannte Flüchtlinge sind oft gut qualifiziert. Der
Arbeitsmarkt stellt den schnellsten und nachhaltigsten Weg der Integration
in eine Gesellschaft dar. Deshalb macht es Sinn, diesen Menschen den Zugang
zum Arbeitsmarkt zu ermöglichen beziehungsweise eine konsequente
Anerkennung von Abschlüssen und Möglichkeiten der modularen
Nachqualifizierung voranzutreiben.
Zudem darf die Politik die Augen vor der Frage der Illegalen, der "Menschen
ohne Papiere", nicht verschließen. Zehntausende leben und arbeiten bereits
heute schon in Deutschland, vor allem in haushaltsnahen und pflegenden
Jobs. In anderen Ländern wie Spanien würden einige Branchen komplett
zusammenbrechen, gäbe es diese Menschen nicht.
Es ist an der Zeit, ehrlich mit dem Thema der Asylsuchenden, der
Flüchtlinge und der "illegalen" Wirtschaftsflüchtlinge umzugehen. Es ist
erschreckend, wie manche Politiker verunsicherte Bürger für ihre
populistischen Parolen instrumentalisieren. So werden Ängste vor einer
neuen "Asylschwemme" geschürt, um sich dann als Garant der Abwehr zu
stilisieren.
Die Frage muss lauten: Wie können wir Menschen eine "Lebenschance" bieten:
entweder auf europäischem Boden - oder auch in ihren Heimatländern, indem
wir dort den Aufbau von Demokratie, Gesellschaft und Wirtschaft
unterstützen.
20 Feb 2011
## AUTOREN
Nadja Hirsch
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