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# taz.de -- Martin Gretschmann und die Musik: Die melancholische Popsau
> Martin Gretschmann hat viele Gesichter. Als Console produziert er
> elektronische Hörmusik, als Acid Pauli macht er Techno, und mit The
> Notwist übt er sich inIndierock.
Bild: Pflegen zusammen die leise Wehmut: Sängerin Miriam Osterrieder und Conso…
Der Schnee knirscht unter den Füßen. Das Geräusch hallt in einer
Bahnunterführung in der oberbayerischen Kleinstadt Weilheim wieder. Martin
Gretschmann hat es aufgenommen. Jetzt ist es in seinem Archiv gespeichert
und wartet darauf, Musik zu werden. Genau wie die Aufnahme einer Band aus
Kairo oder ein Mitschnitt vom Konzert des US-Cosmic-Jazzkollektivs The
Pyramids aus dem Club, den Gretschmann mitbetreibt, der "Roten Sonne" in
München. Unzählige Male hat er auch schon die Geräusche von Menschen,
Maschinen und Zügen am Münchner Hauptbahnhof aufgenommen.
Als Mitte der Achtziger digitale Sampler aufkamen, hat sich Martin
Gretschmann alias Console in diese Maschine verliebt. Seither sammelt er
damit Geräuschfetzen, zieht Samples von Alben, um daraus etwas Eigenes zu
machen. Fünf Soloalben unter dem Alias Console, das letzte, "Herself",
erschien im Dezember, hat er seit 1996 herausgebracht, dazu ein Livealbum,
aufgenommen im Centre Pompidou in Paris, und ein Album mit Remixen. 1999
landete Gretschmann mit "14 Zero Zero" sogar einen richtigen Hit. Daneben
hat er mehrere Hörspiele mit dem Schriftsteller Andreas Ammer produziert
und unzählige Remixe für Künstler von Tocotronic bis Depeche Mode
angefertigt.
Außerdem ist er seit langem festes Mitglied der Indiebands The Notwist und
13 & God und produziert als Acid Pauli lupenreinen Techno. Weil er besessen
ist von elektronischen Klangerzeugern und ihren Speicherkapazitäten, sagt
er: "Es ist selten, dass ich irgendeine Melodie im Kopf habe."
Obwohl Console bei Auftritten zu einer richtigen Liveband anwächst, beginnt
die Arbeit an der Musik meist in Gretschmanns Studio in Weilheim. Dann
sitzt der 37-Jährige inmitten seiner Platten-, Sample- und
Instrumentensammlung und bastelt. Hört sich Jazz an, eine geheimnisvolle
Band aus Kairo oder irgendeine seltene italienische Schlagersingle, die
sonst niemanden interessiert. Meist lässt er die Songs dann nicht bis zum
Ende laufen, sondern unterbricht sofort, wenn er gefunden hat, was er
braucht: ein besonderes Geräusch. "Etwas, das nicht so clean ist, mit
Rauschen drauf." Ein kurzes Soundschnipsel, auf dem man einen Synthieton
hört, aber auch noch den Sänger, wie er gerade ansetzt, Luft zu holen, oder
einen Drumstick, der im Hintergrund leise raschelt.
Miles Davis wird zur Orgel
Das loopt Gretschmann dann, lässt es bei Bedarf noch schneller oder
langsamer laufen, aber nicht viel mehr: "Ich bin auf der Suche nach einem
Geräusch, das man so lassen kann." Dann multipliziert er etwa einen
ausklingenden Ton von Miles Davis per pitch shifting, das heißt durch
Veränderung der Tonhöhe, so, dass er eine ganze Trompetenklaviatur hat.
Der Track "Leaving A Century", auf seinem aktuellen Album "Herself" zu
finden, ist auf diese Weise entstanden. Ein Ton von Miles Davis wird zu
einer Orgel, schon das Intro des Songs besteht aus einem Akkord - und wenn
man genau hinhört, kann man noch irgendein Kratzen oder Schaben wahrnehmen.
Genau so hört es sich an, wenn Miles Davis in der Band von Martin
Gretschmann spielt. Eigentlich ist ihm aber nicht wichtig, woher der Ton
kommt, ob von einer Jazzlegende oder einem namenlosen Studiomusiker, der
nicht einmal in den Credits eines Albums auftaucht. "Es geht mir nicht ums
Zitieren, sondern darum, mich zu inspirieren", sagt Gretschmann. Er nimmt
ein Sample und eignet es sich an. Anstatt eine Referenz zu betonen oder ein
Geflecht aus Verweisen aufzubauen, ordnet sich jedes Zitat in das
Console-Orchester ein.
Angeben ist Gretschmanns Sache eben nicht, er nimmt ein Sample, seziert
einen Ton und erschafft damit eine Landschaft. Vergleichbar mit den
Wellenbewegungen, die bei einer langen Zugfahrt am Fenster beim Reisenden
vorüberziehen. Entsprechend ist auch Gretschmanns Anspruch an seine eigene
Musik und an andere Werke: "Ich mag Musik, die nichts von einem will, die
einen nicht fordert."
Als DJ Acid Pauli legt er am liebsten zur After Hour auf, dazu passt seine
Plattensammlung einfach besser. Seit 2003 veröffentlich Gretschmann unter
dem Pseudonym Acid Pauli auch die tanzbareren Tracks, die er
zusammenbastelt unter dem Namen Acid Pauli. Zunächst waren das sogenannte
Bastard Mixes, also Neukreationen, die aus dem Mischen zweier oder mehrerer
Songs entstanden. Seit 2007 veröffentlicht Acid Pauli in regelmäßiger Folge
bei Smaul, einem Sublabel der Berliner Elektronikplattform Doxa, das
hauptsächlich für Veröffentlichungen von ihm und seinen Freunden FC Shuttle
und Hometrainer dient. Beide unterstützen Gretschmann auch in der
Console-Liveband. Elf Smaul-Maxisingles haben die drei inzwischen
herausgebracht und damit eine Art Weilheim-Minimaltechno geprägt, dessen
besondere Seite in einem ausgeprägten Hang zum Pop besteht.
Gretschmann verhehlt das auch gar nicht, er hält nichts von falschem
Purismus: "Ich bin halt immer noch eine Popsau." Eine melancholische
allerdings - gerade die Songs von Console haben fast immer einen wehmütigen
Grundton. Ausgehend von "14 Zero Zero" erzählen sie von der gedämpften
Melancholie, die im Dasein einer Maschine liegt: Sie funktioniert nach
Plan, sonst führt sie kein Eigenleben.
Von heimatlosen Geistern
Liest man die Songtitel des neuen Console-Albums "Herself" nacheinander,
ergeben sich die zwei Sätze: "She saw a homeless ghost walking the equator
cutting time. Bit for bit dropped down upon her eyes leaving a century of
time for herself." Titel und Texte stammen von Gretschmann, der sie jedoch
nicht selbst singt. Wie schon öfter erledigt auch auf "Herself" die in
Weilheimer Kreisen aktive Musikerin Miriam Osterrieder diese Aufgabe. Sie
singt sehnsuchtsvoll von heimatlosen Geistern, Schatten und einsamen
Spaziergängen in der Nacht.
Woher diese Melancholie kommt? "Die habe ich so in mir drin. Das Gefühl ist
komplett natürlich für mich", sagt Gretschmann. Das weltabgewandte Landei?
"Ich weiß nicht." Er fühle sich in der Großstadt genauso wohl wie auf dem
Land. Zurzeit pendelt Gretschmann viel zwischen Weilheim und Berlin,
zeitweise lebte er auch in Barcelona. "Tapetenwechsel sind dann doch immer
gut, um sich zu limitieren." In einer anderen Stadt hat er, anders als im
Weilheimer Homestudio, keinen Zugriff auf Instrumentenpark,
Samplebibliothek und Schallplattensammlung. Dann konzentriert er sich auf
wesentliche Dinge. Das Knirschen der Schritte im Schnee zum Beispiel.
Console: "Herself" (Disko B/Indigo); Acid Pauli & Hometrainer: "When the
world will end" (Smaul/Doxa).
25 Feb 2011
## AUTOREN
Elias Kreuzmair
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