# taz.de -- Reportage aus Ägyptens Arbeiterhochburg: Die Wirren des Übergangs | |
> Das alte Regime ist gestürzt. Doch Streiks und Demos gegen korrupte | |
> Verwaltungen gehen weiter. Auch in Mahalla. Dort entflammten schon 2006 | |
> Proteste gegen Mubarak. | |
Bild: Szenen von der gewaltsamen Auflösung einer Anti-Mubarak-Demo in Mahalla … | |
MAHALLA taz | Mahalla al-Kubra ist eine verstaubte Stadt im Nildelta ohne | |
jede urbane Ästhetik. Es gibt nur wenige Kaffeehäuser, kaum Grünflächen, | |
keine Fastfood-Restaurants oder Kebab-Buden wie im benachbarten reichen | |
Tanta. Die Leute in Mahalla sind arm, das sieht man an der abgetragenen | |
Kleidung der meisten Passanten. | |
Trotzdem ist die Stadt das Zentrum der ägyptischen Textilindustrie. Hier | |
steht die größte Fabrik Ägyptens, die 1927 gegründete staatliche Mahalla | |
Weaving and Spinnig Mill - auf arabisch Ghazl al-Mahalla. Die Provinz | |
Gharbija war bekannt für ihre langfaserige Baumwolle. Sie galt als die | |
beste der Welt, bis das ägyptische Landwirtschaftsministerium die Bauern | |
ermunterte, statt Baumwolle Exportfrüchte anzubauen. Heute wird | |
minderwertige Baumwolle aus Syrien und Indien importiert. | |
Mahalla ist auch das Zentrum der ägyptischen Arbeiterbewegung. Hier nahm im | |
Dezember 2006 die große Streikwelle ihren Anfang. Heute steht der Verkehr | |
rund um den großen Platz Midan al-Shuna, wo sich auch der zentrale | |
Omnibusbahnhof befindet, still. An der Schari al-Bahr, der | |
Hauptverkehrsachse Mahallas, haben die Busfahrer den Verkehr blockiert. Sie | |
demonstrieren für bessere Arbeitsbedingungen und gegen zu hohe Gebühren bei | |
der Verlängerung der Fahrlizenzen. Fast jeden Tag streikt jemand: | |
städtische Angestellte, die Müllabfuhr, Lokomotivführer. Gerade ist auch | |
ein Streik in der Textilfabrik zu Ende gegangen. | |
Ghazl al-Mahalla ist mehr als eine Fabrik. Sie ist Symbol für den Aufstieg | |
und Untergang der unabhängigen nationalen Industrie. In der Fabrik, die mit | |
den betriebseigenen Arbeitersiedlungen, Kooperativen, einem Club und dem | |
Krankenhaus eine Stadt in der Stadt ist, arbeiteten einst 100.000 Arbeiter. | |
Heute sind es noch 27.000. | |
Die streikenden Arbeiter wollten die Entlassung des Verwaltungsdirektors | |
Fuad Abdel Halim Hassan erreichen. Er soll die Fabrik bewusst zugrunde | |
gewirtschaftet haben. Erst vor drei Jahren hätte der Staat dem Betrieb die | |
gesamten Schulden erlassen und Hassan als neuen Direktor bestellt, erzählt | |
Kamal al-Fayumi. Fayumi - ein kleiner zierlicher Mann mit schütterem Bart - | |
ist Mitglied im zehnköpfigen Streikkomitee. "Statt den Betrieb zu sanieren, | |
hat er ihn erneut in die roten Zahlen geführt. Er hat die hochwertigen | |
deutschen Maschinen zu einem Schleuderpreis verkauft, billige chinesische | |
Maschinen gekauft und dabei hohe Kommissionen in die eigene Tasche | |
gesteckt." | |
Die Arbeiter von Ghazl al-Mahalla glauben, dass dies die Geschäftspolitik | |
der staatlichen Textil-Holding ist, um eine geplante Privatisierung zu | |
rechtfertigen. Viele staatliche Betriebe wurden in den letzten Jahren weit | |
unter Wert an Privatinvestoren verkauft. Dann wurden sie abgerissen. Auf | |
dem Gelände der Fabriken entstanden Wohntürme oder Shopping-Malls. | |
Inzwischen ist auf Druck des Obersten Militärrates ein neuer | |
Verwaltungsdirektor für Ghazl al-Mahalla ernannt worden, ein Ingenieur des | |
Werks, zu dem die Arbeiter mehr Vertrauen haben. Die Arbeiter fordern auch | |
mehr Lohn. Im letzten Jahr hatte das Oberste Verwaltungsgericht die | |
Regierung zur Einführung von Mindestlöhnen von 1.200 Pfund (rund 160 Euro) | |
verpflichtet. Umgesetzt wurde das Urteil aber nie. "Wir sind bereit, unsere | |
materiellen Forderungen für eine Übergangszeit zurückzustellen, bis die | |
Fabrik wieder solide da steht", sagt al-Fayumi. | |
Die Streiks sind umstritten - auch unter den AktivistInnen der Revolution. | |
Hibba ist eine selbstbewusste junge Frau von 25 und hat in Kairo | |
Journalistik studiert. Sie trägt Jeans, und unter ihrem schwarzen Kopftuch | |
gucken ein paar Haare hervor. "Wir haben die Revolution gemacht, weil wir | |
ein besseres Land wollen. Wir wollen nichts kaputt machen, sondern etwas | |
aufbauen." | |
Hibba lebt mir ihrer Mutter und vier Geschwistern in einer winzigen Wohnung | |
von nicht mehr als 50 Quadratmetern. Hibba, ihre Mutter und die kleine | |
Schwester müssen sich ein winziges Schlafzimmer teilen, in dem anderen | |
schlafen die drei Brüder. Im Wohnzimmer ist eine Ecke für eine Nähmaschine | |
abgetrennt. Die Familie kann von der kleinen Witwenrente von 300 Pfund (40 | |
Euro), die sie nach dem Tod des Vaters beziehen, nicht leben. Deswegen näht | |
Hibbas Mutter für Privatkunden oder kleine privaten Textilunternehmen, die | |
sich um die große Fabrik angesiedelt haben. Aber seit dem 25. Januar gibt | |
es kaum noch Aufträge. Jetzt sitzt sie vor dem Fernseher und bestickt die | |
Taschen von Jeanshosen mit Pailletten. Für eine Hose bekommen sie ein | |
ägyptisches Pfund, so viel wie knapp 15 Cent. | |
Heute Morgen war Hibba mit ihrer Mutter auf der Bank, um die Rente | |
abzuholen. Es war der erste Tag, an dem die Banken nach drei Wochen wieder | |
geöffnet hatten. Das Gedränge war so groß, dass die beiden nicht an die | |
Reihe gekommen sind. Hibba glaubt, dass die Streiks aufhören müssen, weil | |
sich die Leute sonst gegen die Revolution stellen würden: "Die Leute haben | |
kein Geld mehr, nichts mehr zu essen, die Handwerker haben keine Aufträge | |
mehr, weil niemand sie bezahlen kann, die Läden verkaufen nichts mehr." | |
Hibba hält zwar die Forderungen der Streikenden für durchaus berechtigt, | |
aber will konstruktive Lösungen. Sie hat ein Netzwerk aus jungen Leuten | |
gegründet, das sich "Jugend gegen die Korruption" nennt. Es will den | |
Arbeitern helfen, ihre Forderungen auf dem Verhandlungsweg durchzusetzen. | |
Streiks und Demonstrationen bleiben als letzte Option. | |
Heute Morgen hat Hibba eine Gruppe von Krankenschwestern der | |
Notfallaufnahme des städtischen Krankenhauses davon überzeugt, einen Streik | |
zu verschieben. "Wir brauchen Geduld", sagt sie. "Gott hat die Welt auch | |
nicht an einem einzigen Tag erschaffen." | |
Sie allein hat vier Freunde während der Revolution verloren. Denen | |
gegenüber fühlt sie sich verpflichtet: "Die Revolution muss weitergehen, | |
damit sie nicht umsonst gestorben sind. Vor der Revolution hatten wir das | |
Gefühl, keine Heimat zu haben. 99 Prozent der jungen Leute wollten weg. Die | |
Revolution hat uns unsere Identität zurückgegeben. Wir haben jetzt ein | |
Land, das uns gehört." | |
Der ehemalige Arbeiterführer Hamdi Hussein ist heute Leiter von Afaq | |
Istirakiya (Sozialistische Horizonte). Das Büro liegt im Erdgeschoss eines | |
unverputzten Backsteinhauses in einer engen, staubigen Gasse. Hussein ist | |
zugleich turnusmäßiger Sprecher des Koordinierungskomitees der politischen | |
Parteien in Mahalla, in dem sich 2007 alle Oppositionskräfte von der | |
marxistischen Linken bis zu den Muslimbrüdern zusammengeschlossen haben. | |
Die Koordination über Facebook mag zwar wichtig für die Koordinierung der | |
Revolution gewesen sein, sagt er, trotzdem sei das nicht alles gewesen. | |
"Wir haben hier um den 25. Januar herum eine Buchmesse mit Veranstaltungen | |
organisiert. Es war ein Kommen und Gehen. So fiel es nicht auf, dass sich | |
das Koordinierungskomitee bei uns traf. Wir haben einen gemeinsamen Aufruf | |
herausgegeben, der zur Demonstration aufrief. Den haben wir überall in der | |
Stadt verteilt. Wir in Mahalla waren die ersten in Ägypten, die den Sturz | |
des Regimes gefordert haben." | |
Das Büro von Hamdi Hussein ist Treffpunkt für Aktivisten aller politischer | |
Couleur. Hier leitet Ramiz, ein Taubstummer, zusammen mit anderen | |
Behinderten den Sender Sautuna (Unsere Stimme). Hier treffen sich auch die | |
unabhängigen Arbeiteraktivisten. Einer von ihnen ist Faisal Laghousha. Er | |
organisierte die Streiks 2006 und 2008 und wurde dann nach Kairo | |
strafversetzt. Laghousha ärgert sich über den Streikausgang. Der alte | |
Verwaltungsdirektor sei zwar entlassen, aber statt ihn vor Gericht zu | |
stellen, hätte ihn der korrupte Direktor der Holding für die staatlichen | |
Textilbetriebe zu seinem Berater ernannt. | |
## Das Spiel mit der Scharia | |
An einer Straße hängen flatternd Flugblätter im Wind, auf denen zu lesen | |
ist: "Ein ziviler Staat steht nicht im Widerspruch zur Anwendung der | |
Scharia". Die Salafisten in Mahalla rufen zu einer Protestveranstaltung zur | |
Verteidigung von Artikel 2 der ägyptischen Verfassung auf, der die Scharia | |
zur Hauptquelle der Gesetzgebung erklärt. Vor dem Eingang des | |
Jugendzentrums steht eine Gruppe junger Männer, in weißer Galabiya. Alle | |
tragen lange Bärte. Hier ist der Männereingang. 50 Meter weiter steigen | |
Frauen in langen schwarzen Gewändern aus Tuk-Tuks, nur die Augen sind | |
hinter dem Gesichtsschleier zu sehen. | |
"Die Salafisten spielen ein gefährliches Spiel. Der Artikel 2 der | |
Verfassung steht gar nicht zur Diskussion. Ich sehe keinen Sinn in dieser | |
Kampagne, es sei denn, man will die Bewegung spalten und von den Zielen der | |
Revolution ablenken", meint Mahmud Gohar, Bauunternehmer und Sprecher der | |
Muslimbrüder in Mahalla. Hinter seinem Schreibtisch hängen Bauzeichnungen | |
von Hochhäusern, unter anderem ein 10-stöckiger Wohnturm am großen | |
zentralen Platz Midan al-Shuna, den er gebaut hat. Viele Salafisten hätten | |
sich an den Pro-Mubarak-Demonstrationen beteiligt. Ihre Begründung jetzt: | |
Es sei "haram", verboten, einem muslimischen Herrscher den Gehorsam | |
aufzukündigen. Gohar glaubt, dass die Amn al-Daula, die alte | |
Staatssicherheit, ihre Hände mit im Spiel habe. | |
Überhaupt sieht Gohar beunruhigende Anzeichen dafür, dass sich im Stillen | |
die alten Netzwerke wieder reorganisieren. Vor ein paar Tagen hatte die | |
Oppositionsallianz eine Gedenkveranstaltung für die Gestorbenen | |
organisiert. "Wir haben die Polizei dazu eingeladen. Wir wollten ihr die | |
Möglichkeit geben, sich beim Volk zu entschuldigen. Wir brauchen die | |
Polizei und wollten einen Neuanfang. Die Veranstaltung fing um 18 Uhr an. | |
Um 16 Uhr bekamen wir einen Anruf von der Polizei, dass sie nicht kommen | |
könnten. Warum? Sie hätten einen Befehl von der Staatssicherheit bekommen. | |
Die Amn al-Daula existiert nach wie vor, sie hat ihre Verbindungen und übt | |
Druck auf Behörden aus, die Revolution zu sabotieren." | |
Auch die Haltung der Stadtverwaltung gegenüber den Revolutionskomitees, die | |
die Straßen reinigen und Mauern streichen, würde sich ändern, berichtet | |
Gohar. Am Anfang hätte sie die Revolutionskomitees mit Material und | |
Fahrzeugen unterstützt. Jetzt hat sie diese Unterstützung wieder | |
zurückgezogen. Gründe nenne sie keine. | |
Die Revolution ist noch längst nicht zu Ende. Mubarak ist noch ein freier | |
Mann. Seine Staatspartei NDP existiert weiter. Der Staatssicherheitsdienst | |
Amn al-Daula wurde nicht aufgelöst. Und die korrupten Elemente sitzen | |
überall in der Verwaltung und im staatlichen Sektor. "Deswegen rufen wir | |
jeden Freitag zu einer Demonstration auf", sagt Mahmud Gohar. "Damit wir | |
die Forderungen der Revolution nicht aus den Augen verlieren." | |
4 Mar 2011 | |
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