Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Ein Jahr nach dem Erdbeben in Chile: Hin und wieder bebt die Erde
> Aurora Tapia hat Haus und Geschäft verloren. Obwohl sie Angst vor einem
> neuen Beben hat, will sie in ihr altes Leben zurück. Wie kommt der
> Wiederaufbau voran?
Bild: Das Beben Ende Februar 2010 war mit einer Stärke von 8,8 auf der Richter…
DICHATO taz | Ein Duft von Eukalyptus zieht durch die Hüttensiedlung. Der
Wind bewegt die chilenischen Fahnen auf den Blechdächern. El Molino liegt
vier Kilometer oberhalb des chilenischen Küstenortes Dichato auf einem
Hügel. Hier sind die Bewohner gestrandet, denen der Tsunami vor einem Jahr
ihre Häuser und Wohnungen nahm.
Bei Nordwind hat es hier bis vor Kurzem noch ganz anders gerochen. Windböen
hatten die Chemieklos gleich reihenweise umgeworfen. "Der ganze Siff ist
durch das Dorf geflossen." Nur kurz tippt sich Aurora Tapia mit Daumen und
Zeigefinger an die Nase, dann weist der Finger nach vorn. "Jetzt haben wir
die Badecontainer." Jeder Container enthält acht Bäder und ist für 16
Familien gedacht. Duschen müssen die Bewohner von El Molino zwar mit kaltem
Wasser, aber trotzdem: "Ein Problem weniger", sagt Aurora Tapia.
"Mein kleiner Laden unten am Strand, unser Haus am Fluss - alles komplett
weg." Seit Mai 2010 lebt die Witwe mit ihren beiden Söhnen Carlos und Brian
in El Molino. Noch immer gibt es in Chile über hundert solcher
Hüttendörfer, in denen rund 4.000 Familien leben. El Molino ist eine der
größten Notunterkünfte. Drei Wochen nach dem Tsunami wurden der
Eukalyptuswald gerodet und in aller Eile die Holzhütten gezimmert. Heute
stehen hier 450 Hütten, jede 20 Quadratmeter groß, ohne Wasseranschluss und
ohne Heizung. 3.000 Menschen leben in El Molino, fast die ganze
Dorfbevölkerung von Dichato.
"Anfangs waren wir hier eingepfercht wie Tiere. Die Stimmung war oft kurz
vor der Explosion", sagt Tapia zurückblickend. Es gab keinen Strom, Wasser
nur aus einem großen Tank. "Um alles mussten wir kämpfen."
Am 27. Februar 2010 hatte in Dichato um 3.30 Uhr Ortszeit zuerst die Erde
gebebt. Die Tapias und ihre Nachbarfamilien flohen auf die nahen Hügel.
Dann kam der Tsunami. Er war keine gigantische Welle, sondern ein
schneller, gewaltiger Gezeitenwechsel. Um vier Uhr morgens stieg das Wasser
zum ersten Mal, dann wich das Meer zurück. Der zweite und größte Anstieg
des Ozeans erfolgte zwei Stunden später. Als sich das Meer wieder
zurückgezogen hatte, waren 80 Prozent von Dichato zerstört. Was nicht gegen
die Hügel geschwemmt wurde, hatte das Meer mit sich gerissen. 18 Tote
wurden in Dichato geborgen.
## Kampf ums Wasser
"Drei Tage haben wir auf den Hügeln ausgeharrt", erzählt Aurora Tapia. Dann
kampierten sie in einem Zelt, bis sie vorübergehend in eine
Sammelunterkunft kamen. "Da vergisst du, was eine Intimsphäre ist."
In El Molino haben sich die Bewohner, so gut eben es geht, eingerichtet.
Blau, gelb oder rot sind manche Fassaden der Hütten gestrichen. Viele haben
sich mit Anbauten den Wohnraum vergrößert, auf einigen Dächern sind
Satellitenschüsseln montiert. Die Siedlung ist in sechs Sektoren
unterteilt. Jede hat einen gewählten Leiter. Mindestens einmal die Woche
ist Versammlung, wenn es wichtige Neuigkeiten gibt, auch zwischendurch.
Aurora Tapia ist für zwei Jahre als Leiterin für die größte der sechs
Sektionen gewählt.
"Der Kampf um das Wasser war das bisher schwerste Stück." Die
Provinzregierung wollte die Kosten dafür nicht übernehmen. Dass sie
fließend Wasser im Haus hat, dafür hat sie mit ihren Söhnen selbst gesorgt.
Einen hochgestellten Tank vor ihrer Wohnhütte füllen sie täglich mit dem
Schlauch, der vom Badcontainer das Wasser abzweigt. Wieder "ein Problem
weniger".
In El Molino hat Aurora Tapia wieder einen kleinen Laden eingerichtet. Der
tägliche Lieferant kommt. Die kleine, rundliche Frau zählt die Suppentüten,
prüft die Trockenmilchpackungen. Die Kekspackungen sind zu groß, sie hatte
kleinere bestellt. "Die sind praktischer für die Eltern, da gibt es weniger
Streit", weiß sie.
Präsident Piñera hat sich zum Jahrestag des Tsunamis angesagt, weiß der
Lieferant. Ja, er hat Piñera gewählt, erzählt er ungefragt. So schlecht,
wie viele ihn machen, sei der nicht. "Übernehmen Sie mal die Regierung,
wenn das halbe Land in Trümmern liegt." Piñera hat jedenfalls gleich
angepackt, meint er. Nicht wie die Bachelet, seine sozialistische
Vorgängerin. "Die hat nach dem Beben drei Tage gebraucht, um den Notstand
auszurufen." Und als sie dann endlich Militär losschickte, waren in
Concepción schon alle Läden geplündert. "In Dichato gab es ja keine Läden
zu plündern. Hier hat sich das Meer alles geholt."
## Kritik an Piñera
Die größte Kritik an Staatspräsident Sebastián Piñera richtet sich gegen
den schleppenden Wiederaufbau der Wohnungen. Vorbei ist der Hype um die
Rettung der 33 verschütteten Bergleute. Piñera hatte nach seinem
Amtsantritt am 10. März 2010 ein beschleunigtes Aufbauprogramm beschlossen.
Innerhalb von zwei Jahren sollen rund 2,3 Milliarden Dollar allein für den
Neubau und die Reparatur von Häusern und Wohnungen ausgegeben werden. "Der
Wiederaufbau geht kräftig voran", versicherte Piñera noch kurz vor dem
Jahrestag. In 135.000 Fällen seien Beihilfen vergeben worden, für etwa 60
Prozent der rund 220.000 zerstörten oder beschädigten Häuser und Wohnungen.
50.000 Wohnungen sollen im Bau sein.
Die Vereinigung der chilenischen Kommunen, vergleichbar etwa mit dem
Deutschen Städtetag, kommt zu einem ganz anderen Schluss. Erst 1.536
Wohungen seien tatsächlich fertiggestellt. "Das sind weniger als ein
Prozent", rechnete der Vorsitzende der Vereinigung, Claudio Arriagada, der
chilenischen Öffentlichkeit vor.
Piñera hat mittlerweile seine Angaben korrigiert. Als "langsam und
schwierig" bezeichnete er den Wiederaufbau der Wohnungen, und seine
positive Bilanz hört sich nun an wie folgt: Innerhalb von 45 Tagen konnten
250.000 Kinder wieder zur Schule gehen, nach 60 Tagen war die
Gesundheitsversorgung wieder gewährleistet, und nach 90 Tagen waren 80.000
Notunterkünfte aufgebaut, so der Präsident.
Carlos Tapia ist nach Dichato gefahren. Er hält seinen Toyota an und steigt
aus. "Hier war das Wohnzimmer, da die Küche." Er zeigt auf die rotbraunen
Fließen. Der 41-Jährige steht auf dem Fundament seines Elternhauses. Der
Fußboden ist das Einzige, was davon noch geblieben ist.
Ein Jahr später ist hier alles Brachland. "Bisher ist nichts
wiederaufgebaut." Lediglich zwei schon vor dem Beben fertiggestellte kleine
Siedlungen sind renoviert, die Häuschen sollen demnächst den Eigentümern
übergeben werden. "Die liegen da hinten, etwas den Hang hoch. Das hat sie
gerettet", sagt Tapia und deutet auf die kleinen weißen Flecken hinter den
Baumgruppen.
Mit seinem Toyota fährt er das Ufer entlang. Scharfkantig ragen die
Abbruchstellen der schmalen Asphaltstraße über den Sand. Zwei Meter Strand
hat sich das Meer geholt. "Dort drüben stand unser kleiner Laden." Er hebt
den Kopf in Richtung einer provisorischen Bretterbude. "Da wird jetzt
Touristentrödel verkauft."
## Erfahrung mit Tsunamis
In Dichato haben sie Erfahrung mit Tsunamis. Als 1939 das erste Mal einer
kam, standen die Häuser auf den Hügeln um die Bucht. Auch der zweite
Tsunami von 1960 richtete keine großen Zerstörungen an. Erst danach fingen
die Menschen an, von den Hügeln in die Bucht umzusiedeln. "Obwohl wir
wussten, dass der Untergrund nur Sand und kein festes Gestein ist, wurde
überall in der Bucht gebaut."
Häuser, Geschäfte und Restaurants auf Meereshöhe - je näher am Strand,
desto profitabler. Dichato entwickelte sich zum beliebten Ausflugs- und
Feriendorf. Auch außerhalb der Saison kamen die Gäste aus dem 40 Kilometer
entfernten Concepción, das mit der Hafenstadt Talcahuano das zweitgrößte
Industriegebiet Chiles bildet.
Seit einem Jahr sind Häuser, Geschäfte und Restaurants weg. Vereinzelt
stehen noch Überreste. Kleine Schutthalden zieren die Uferpromenade. Den
Grundstücksgürtel um den Strand hat die Regierung enteignet. Eine Schutz-
und Auslaufzone soll geschaffen, eine Schutzmauer errichtet und die
Küstenstraße weiter nach hinten verlegt werden.
Dagegen regt sich Widerstand. Nicht alle Betroffenen sind mit der
Enteignung ihrer Grundstücke in Strandnähe einverstanden. Wie kleine
Trutzburgen stehen zwei große Restaurants als einzige Neubauten am ganzen
Strand. "Keine Ahnung, was mit denen sein wird", schüttelt Carlos den Kopf.
Die Fahrt mit dem Toyota endet abrupt. Ein Fischkutter liegt quer über der
Straße. "Was das Wasser nicht wegreißen konnte, das haben die aufs Ufer
gedrückten Schiffskutter und Container wegrasiert." Carlos Tapia ist für
die Einrichtung der Schutzzone und deutet auf den Kutter. "Dann bleiben wir
hoffentlich von solchen Geschossen verschont."
Seit dem Beben zittert in der Region mehrmals täglich die Erde, mal
leichter mal stärker. Plötzlich wackelt die Erde. Wie von Geisterhand wird
der Toyota hin und her gerüttelt. "Zurück zur Siedlung, auf den Hügel",
ruft Carlos. Später melden die Nachrichten, dass die Erde an diesem 11.
Februar 2011 mit einer Stärke von 6,9 auf der Richterskala gebebt hat. Es
war das stärkste Nachbeben seit dem 27. Februar 2010, und wie durch ein
Wunder kam niemand und nichts zu Schaden.
Aurora Tapia hat Angst, weil, wie sie sagt, sich nur ein Teil der Erde
bewegt hat und der andere nicht. Dennoch wollen alle zurück: in ein Haus
auf ihrem alten Grundstück. Das Leben in El Molino soll ein Übergang sein.
Gerade hat Präsident Piñera versprochen, dass der kommende Winter für alle
der letzte in den Hüttensiedlungen sein werde. Daran glauben sie nicht.
"Wir müssen hier oben um alles kämpfen. Wir werden uns auch unsere Rückkehr
erkämpfen."
9 Mar 2011
## AUTOREN
Jürgen Vogt
## ARTIKEL ZUM THEMA
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.