# taz.de -- Opfer von Hobby-Fahndern nach Amoklauf in Winnenden: Der doppelte T… | |
> Der 11. März bleibt für den damals 21-jährigen Tim Kretschmer aus Bremen | |
> unvergessen: Vor zwei Jahren wurde er im Internet als Namensvetter des | |
> Amokläufers von Winnenden gejagt. | |
Bild: Auszeit in Bangkok: Tim K. aus Bremen. | |
BREMEN taz | Seit über einer Woche ist Tim Kretschmer in Bangkok. Seine | |
Wohnung liegt im achten Stock einer Wohnanlage mit Pool, Sauna, Fitnessraum | |
und Security. Der Fachinformatiker hat sich ein Visum für ein halbes Jahr | |
in Thailand ausstellen lassen und sich eine Auszeit mit traumhaftem | |
Ausblick genommen. Urlaub von seinem Leben in Deutschland und vom 11. März | |
2009. | |
An jenem Mittwoch vor zwei Jahren tötete ein Amokläufer neun Schüler und | |
drei Lehrer der Albertville-Realschule in Winnenden. Weiteren drei Menschen | |
nahm er auf der Flucht das Leben. Der Täter, ein 17-jähriger Schüler, wurde | |
nach langer Verfolgung von der Polizei gestellt und erschoss sich | |
schließlich selbst. Die Fahnder teilten der Öffentlichkeit seinen Namen | |
mit: "Tim K." | |
Sofort stürzten sich Neugierige auf das virtuelle Bild des Täters im Netz. | |
Mit wenigen Klicks landet man auf der Suche nach "Tim K." auch bei Tim | |
Kretschmer aus Bremen. "Die haben einfach Tim K. in die Suchmaschine | |
eingegeben", sagt der 23-Jährige heute. "Vieles, was zu finden war, war | |
über mich." | |
"An jenem Mittwoch bin ich ganz normal zur Arbeit gegangen", erinnert er | |
sich. Gegen elf Uhr habe ihn die Verwaltung angerufen und gesagt, dass | |
diverse Nachrichtensender Informationen über ihn haben wollten und dass | |
sein Bild mit dem Amoklauf in Verbindung gebracht wird. Der damalige Azubi: | |
"Zuerst habe ich das alles gar nicht geglaubt. Aber als ich mein Bild auf | |
mehreren Nachrichtenportalen sah, war ich schockiert." Über die | |
Business-Plattform Xing gelangten die Medien zur Homepage seiner Firma. Von | |
dort war der angebliche "Täter" nur einen Klick entfernt. Auf der | |
Mitarbeiterseite wurde sein Foto schnell gefunden und kopiert. Alter und | |
Wohnort standen auch dabei. | |
Tim Kretschmer fragt sich bis heute: "Wer kommt eigentlich auf die Idee, | |
dass jemand aus Bremen über 600 Kilometer nach Stuttgart fährt, um dort an | |
einer Schule Amok zu laufen?" Aber solch schwierige Fragen haben sich die | |
Hobby-Fahnder damals nicht gestellt. | |
Auf der Arbeit des Bremer Azubis klingelte ununterbrochen das Telefon. | |
Unzählige E-Mails mit Beschimpfungen trafen ein, nachdem sein Foto durch | |
Twitter veröffentlicht wurde. "Für die halbe Welt galt ich eine Weile als | |
Mörder", erinnert sich Kretschmer. Einen halben Arbeitstag brachte er damit | |
zu, die Meldungen über den Amoklauf und die damit verbundenen | |
Falschmeldungen über seine Person zu lesen. In seinem Blog, den er einen | |
Tag nach dem Amoklauf eingerichtet hatte, beschwerte er sich über die | |
traurige Bilanz: In kürzester Zeit diskutierten mehr als zehn Foren über | |
ihn, und private Webprojekte hatten 90 Mal so viele Besucher wie sonst. | |
Dazu kamen 32 Freundes-Einladungen auf Facebook. "Wie man mich dort | |
gefunden hat, ist mir schleierhaft", bloggte Azubi Kretschmer am 12. März. | |
Auch seine Arbeitskollegen hätten sich gewundert, dass sein Xing-Profil in | |
kürzester Zeit über 16.000 Mal angeklickt wurde. Ein Nachrichtenblog | |
stellte den "IT-Fachmann" sogar als Counter-Strike- und World of | |
Warcraft-Spieler dar. "Dort stand, dass mich diese Killerspiele zu der Tat | |
verleitet hätten", sagt Kretschmer. | |
Gegen 15 Uhr reichte es ihm. "Ich war einfach total genervt von der Presse | |
und ihrer Sensationsgeilheit." Er schrieb im Xing-Profil: "Suche: | |
Handfeuerwaffen. Biete: Amoklauf, Amokberatung." Eine Provokation sollte | |
das sein, eine Spitze gegen die Medien, gegen ihre schlampige Arbeit: "Ich | |
dachte, dass man mich dann in Ruhe lässt." Der kurze Satz stand für drei | |
Minuten im Netz. Dann wurde er von einem Xing-Administrator entfernt. "Ich | |
habe sofort bei Xing angerufen und mich entschuldigt", erzählt Kretschmer. | |
Kurz danach änderte er seine Angaben wieder und das Profil wurde | |
freigegeben. Aber die Nachrichten überschlugen sich dennoch. | |
"Diese Aktion war sicherlich nicht korrekt", sagt Kretschmer, er habe in | |
der Hetzjagd der Presse einfach die Nerven verloren. Mit dem Profilstreich | |
habe er seine Empörung über Sensationsgier ausdrücken wollen - eine Chance, | |
den Medien den Spiegel vorzuhalten und ihnen eins auszuwischen. In seinem | |
Blog schrieb er: "Man stellt eins fest: Was die Presse sucht und nicht | |
findet, wird irgendwie zusammengedichtet - was man der Presse anbietet, | |
wird gefressen." | |
Für die drei Minuten Falschmeldung kam vier Tage später die Konsequenz. Am | |
16. März schrieb Kretschmer in seinem Blog: "Heute wurde ich für meine | |
Aktion von der Arbeit freigestellt." Der angehende Programmierer musste | |
seinen Schreibtisch in der Multimedia-Firma räumen. Da er aber als | |
Auszubildender nicht entlassen werden konnte, wurde er vom Arbeitgeber | |
abgemahnt und bis zur seiner Abschlussprüfung freigestellt: "Der Vorstand | |
empfand die Änderung im Xing-Profil als nicht hinnehmbar." Er habe ihm | |
vorgeworfen, diese Aktion nur deswegen gemacht zu haben, um in die Medien | |
zu kommen. "Aber der Betriebsrat war auf meiner Seite", sagt Kretschmer. | |
Was er auf Xing schreibe, sei schließlich privat und jedem selbst | |
überlassen. Zwei Jahre später beurteilt der junge Mann die "Freistellung" | |
etwas anders: "Ich habe viel zu oft den Mund aufgemacht und mich | |
beschwert." Zum Beispiel darüber, dass er in seinem letzten Ausbildungsjahr | |
jedes Mal die Kaffeemaschine reinigen und die Post holen musste. "Darüber | |
habe ich mich tierisch aufgeregt", gibt Kretschmer zu. Die Aktion am 11. | |
März habe die Firma seiner Meinung nach nur als Vorwand benutzt, um ihn | |
rauszuwerfen. | |
Der 11. März hat den Bremer Informatiker verändert. Er war "durch den | |
Wind", hatte seinen Job verloren, dann ging auch noch seine Beziehung in | |
die Brüche. Nach der bestandenen Abschlussprüfung zum Fachinformatiker fand | |
er lange keine Anstellung. Die Vorstellungsgespräche hatten oft nur ein | |
Thema: "Erzählen Sie doch mal, Herr Kretschmer, wie war das eigentlich | |
genau mit ihrem Namensvetter aus Winnenden?" Der Bewerber hatte das Gefühl, | |
dass ihn die Firmen nur wegen dieser einen Geschichte einluden. | |
Bei einer Programmierfirma hatte er jedoch genau deswegen Glück. Nur | |
aufgrund der Verwechslungsaktion sei ein junger Unternehmer auf den | |
ausgebildeten IT-Fachmann aufmerksam geworden. "Allerdings merke ich | |
schnell, dass ein Angestelltenverhältnis für mich keine Lösung war, da ich | |
mein Potenzial einfach nicht ausschöpfen konnte", sagt Kretschmer. Also | |
kündigte er zwei Monate später und machte sich selbstständig. Heute hat er | |
zwei Firmen im Bereich Online-Marketing und baut mit seinem Freund und | |
Geschäftspartner gerade die dritte auf. Sein Fazit: "Der 11. März war ein | |
Tag, der mir viele Türen geschlossen, allerdings auch sehr viele Türen | |
geöffnet hat." | |
Vor einer Woche hat sich wieder so eine Tür geöffnet. Kretschmer packte | |
einen einzigen Koffer, seinen Laptop und verließ seine | |
28-Quadratmeter-Wohnung in Bremen in Richtung Bangkok. In seinem heutigen | |
Xing-Profil steht: "Its official, I survived what I been through." | |
11 Mar 2011 | |
## AUTOREN | |
Julia Walker | |
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