# taz.de -- Vorwurf pietätlose Opposition: Überhitzung im Moralmeiler | |
> Nutzt die Opposition die Ereignisse in Japan innenpolitisch aus? Klar. | |
> Pietätlos ist das aber nicht. Der Vorwurf von Schwarz-Gelb ist selbst | |
> nichts anderes als Taktik. | |
Bild: Meister der logischen Pirouette: Kraftwerk Mappus. | |
Betreten blickte der Bundesumweltminister in die Kamera. Es war am vorigen | |
Samstagabend, der Name Fukushima drang seit einem Tag weltweit ins | |
Bewusstsein ein, und Norbert Röttgen gab den ARD-"Tagesthemen" ein | |
Interview. Der Minister sagte: "Mein Empfinden heute ist, dass dies heute | |
nicht der Tag ist, um recht zu haben oder politische oder parteipolitische | |
Debatten zu führen. Wir sind jetzt in einer akuten Notsituation mit Toten | |
und Verletzten." Zwei Antworten später erwähnte Röttgen en passant, auch | |
der rot-grüne Ausstiegsbeschluss habe ja 20 Jahre weitere Laufzeiten für | |
Atomkraftwerke vorgesehen. | |
In diesem Ton redeten Regierungsvertreter in den vergangenen Tagen häufig. | |
Vor allem in den ersten Tagen nach Beginn der Atomkatastrophe in Japan | |
haben Union und FDP die Opposition beschuldigt, sie instrumentalisierten | |
das Leid von Menschen zu innenpolitischen Zwecken. Wie ihr Minister, so | |
erklärte auch Bundeskanzlerin Angela Merkel am Samstag: "Heute ist nicht | |
der Tag, um über abschließende Schlussfolgerungen zu sprechen." | |
Außenminister Guido Westerwelle (FDP) urteilte noch am Montag, "es würde | |
nicht verstanden werden" von der Bevölkerung, wenn das tausendfache Leid in | |
Japan parteipolitisch genutzt würde. | |
Nutzen die Oppositionsparteien also ein Ereignis im fast 9.000 Kilometer | |
entfernten Japan, um ihrem innenpolitischen Vorhaben des Atomausstiegs mehr | |
Wucht zu verleihen? Natürlich tun sie das. Nur: Pietätlos ist dies entgegen | |
dem, was die Regierung suggeriert, ganz und gar nicht. Und indem | |
Schwarz-Gelb dies suggeriert, instrumentalisiert sie selbst menschliches | |
Leid zu ihren Zwecken. | |
Erstens schwenken SPD, Grüne und - weit unentschlossener - die Linkspartei | |
ja nicht auf eine gesellschaftliche Stimmung ein und lassen dafür ihre | |
bisherigen Überzeugungen fahren. Im Gegenteil: Sie pochen schlicht auf | |
Umsetzung dessen, was vor allem die Grünen seit Jahrzehnten ersehnen. Die | |
Kernschmelze in Fukushima haben SPD und Grüne weder erhofft, noch haben sie | |
dazu beigetragen. Schlussfolgerungen zu fordern aus einem Ereignis, vor dem | |
sie seit einer Generation warnen, ist da lediglich folgerichtig. Natürlich | |
mag dies auch dazu führen, dass die Grünen sich Hoffnung auf verstärkten | |
Wählerzuspruch machen. Aber dies allein ist nicht unmoralisch, sondern | |
Kernziel jeder Partei. | |
Die Argumentation der Regierung hingegen ist löchrig: In Japan geraten | |
mehrere Atomreaktoren, die deutschen Atomkraftwerken technisch mindestens | |
ebenbürtig sind, an die Grenze zur Kernschmelze oder gar darüber hinaus. | |
Aber es soll unschicklich sein, öffentlich über die Schlussfolgerungen für | |
die 17 Reaktoren in Deutschland zu debattieren? Allen Ernstes erklärte dies | |
Unionsfraktionsvize Michael Fuchs (CDU) am vergangenen Samstag: "Es ist | |
nicht berechtigt, aus den Ereignissen in Japan Rückschlüsse auf die Nutzung | |
der Kernenergie in Deutschland zu ziehen." Diese Äußerung zeugt von einer | |
undemokratischen Haltung, denn letztlich fordert Fuchs ein Denkverbot. Und | |
das in einem Bereich, in dem es, wie die Ereignisse in Japan zeigen, | |
potenziell um Gesundheit und Leben von Millionen Menschen in Deutschland | |
geht. Daher ist der Versuch, eine Debatte über die Zukunft der Atomenergie | |
zu ersticken, zudem unpatriotisch. Nicht nur selbst erklärte Konservative | |
sollte dies aufschrecken. | |
Union und FDP haben die "Toten und Verletzten" zu ihren Zwecken | |
instrumentalisiert. Die gespielte Entrüstung sollte ihnen Zeit verschaffen. | |
Das Mitleid für die japanischen Opfer sollte nicht zu Unmut führen über | |
eine Regierung, die erst vor wenigen Monaten gegen massiven öffentlichen | |
Widerstand eine Verlängerung der AKW-Laufzeiten durchgedrückt hatte. Die | |
Hoffnung war folgende: Die erste Welle der öffentlichen Aufregung möge sich | |
legen, und dann werde man sehen, ob die Atompolitik der Regierung noch | |
stehe. | |
Dass dies nicht klappen kann, hat Merkel nach wenigen Tagen begriffen. | |
Deshalb kündigte sie am Dienstag die Abschaltung von sieben Atomkraftwerken | |
an. Die Kanzlerin sagte zur Begründung, bei ihrer Entscheidung gehe es "um | |
Verantwortung" angesichts der Ereignisse in Japan. Dass dies Auswirkungen | |
auf die Bundesländer hat, sei "evident". Der baden-württembergische | |
Ministerpräsident Stefan Mappus (CDU), einer der vehementesten Verfechter | |
der Atomenergie, urteilte: "Ich mache keine Kehrtwende." Zur Begründung | |
sagte er: "Was wir tun, ergibt sich aus sich selbst heraus. Ich glaube, es | |
ist die einzige Möglichkeit, es so zu machen, wie wirs machen." | |
Im Vergleich zu Mappus logischer Pirouette wirkt die frühere These von der | |
Instrumentalisierung geradezu einleuchtend. | |
15 Mar 2011 | |
## AUTOREN | |
Matthias Lohre | |
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