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# taz.de -- Tierschau: Im Hier und Jetzt im Zoo
> Der Autor Mathias Gatza hat eine Dauerkarte für den Berliner Zoo. Im
> Schatten der Tiere fand er zu sich und die Ideen zu seinem preisgekrönten
> Debütroman. Ein Gang auf seinem "manischen Weg".
Bild: Der Schriftsteller Mathias Gatza im Zoo, seinem Ort der Inspiration.
Sonntagmorgen, fünf vor neun. Mathias Gatza wartet bereits am Haupteingang
des Berliner Zoos. Er trägt einen blauen Mantel und eine schwarze
Designerbrille. "Ich bin zuverlässig und werde da sein", hatte er in einer
Mail geschrieben und dass er nicht über ein Handy zu erreichen sei. Das
Handy steht in einer Kette von Gegenständen und Menschen, von denen sich
Mathias Gatza im Laufe der Jahre verabschiedet hat.
Von seinem eigenen Verlag. Von seiner Arbeit als Lektor beim Berlin Verlag
und Programmleiter bei Suhrkamp. Von Autoren. Von seiner zwanzigjährigen
Ehe. Von Alkoholexzessen. Nicht verabschiedet hat er sich von seiner
Dauerkarte für den Zoo.
Jahrelang ist er täglich hierher gekommen, hat täglich den gleichen Weg
genommen, sich auf die gleiche Bank gesetzt, den Tieren ins Gesicht
gesehen. Es war auch die Dauerkarte, die ihm sein literarisches Debüt
beschert hat: "Der Schatten der Tiere".
Ein fesselnder, philosophischer Psychothriller, der den Leser in eine Welt
der Liebe, der Süchte und Sehnsüchte, der Mathematik und natürlich der
Tiere und Menschen im Zoo entführt. Das Buch hat ihm den Bremer
Literaturpreis eingebracht.
Jetzt wird mir Mathias Gatza seinen Weg durch den Zoo zeigen, den er
"manischen Weg" nennt. Er wird mich dabei seinen Bekannten vorstellen, den
Gorillas, dem Eberschwein und vielleicht auch den Zwergottern. Wir
passieren das Haupttor. Es ist totenstill, kein Raunzen, kein Gurren, kein
Zwitschern.
Mathias Gatza zuppelt sich am Mantelkragen, eine verlegene Geste des
Schutzes gegen die eisige Kälte. Minusgrade, Sonne, Ostpreußenwind. "Das
Wetter müsste Ihnen doch gefallen. ,Der Winter ist im Zoo meine
Lieblingsjahreszeit', heißt es in Ihrem Roman. Was treibt Sie eigentlich
seit Jahren hierher?"
"Dieser Zoo ist für mich Meditation. Hier entfliehe ich dem Alltag und gehe
meinen Gedanken nach. Im Zoo macht man unverstandene Tiefenerfahrungen. Es
ist erschütternd, sich gegenüber den Tieren zu positionieren."
"Können Sie ein Beispiel geben?"
"Ich war schon als Kind mit meiner Mutter oft hier. Wenn man mich
anschließend zu Hause fragte, wie groß ein Elefant ist, dann hob ich die
Hand bis zur Höhe meines Kopfes. Irgendwann fuhren wir wieder zum Zoo. Wir
saßen oben im Doppeldeckerbus und konnten schon von dort die Elefanten
sehen. Obwohl ich sie schon hundertmal gesehen hatte, kamen sie mir
plötzlich riesig vor. Ich glaubte, es seien Skulpturen, weil ich mir nicht
vorstellen konnte, dass sie so massiv sind. Ich war schockiert, weinte. Es
war meine erste Metamorphose der Wahrnehmung."
Von weitem ist nun das Indische Tor zu sehen, das von zwei Elefanten aus
dunkelgrauem Stein getragen wird. Mathias Gatzas erzählt von den Anfängen
des Zoos, ein Geschenk von Friedrich Wilhelm IV. im Jahre 1844 an die Stadt
Berlin. Millionen von Menschen kamen, um hier nicht nur Tiere zu sehen,
sondern auch Afrikaner, die man nackt zur Schau stellte. Dahinter, sagt
Mathias Gatza, habe auch ein starkes sexuelles Interesse gestanden.
Interessanterweise seien die Menschenschauen von den Nationalsozialisten
verboten worden - die Vorstellung vom arischen, mitleidlosen Übermenschen
sei wohl nicht vereinbar gewesen mit dem Sehen und Begehren des
ausgestellten Afrikaners.
Eine ältere Dame, eingemummelt in Schal und Fellmütze, kommt uns entgegen,
Gatza blickt rüber, als würde er die Fellmütze kennen. Jetzt liegt die
Frage nahe, ihn nach anderen Dauergästen zu fragen, schließlich gibt es in
seinem Buch den Ich-Erzähler, der sich regelmäßig mit einem Mann namens
Braun im Zoo getroffen hat, ein Mathematiker und Trinker, der in Norwegen
tot aufgefunden wird, übel zugerichtet. So beginnt die Geschichte.
Jeden Tag, sagt Mathias Gatza, habe er über Jahre die gleichen Dauergäste
gesehen, ungefähr zehn, er habe jedoch nie mit einem gesprochen. Und
während er das erzählt, schießt er plötzlich vor zu einem Freigehege aus
Steinen und Wasser und sagt: "Die mag ich sehr." Vor uns bauen sich
Zwergotter auf, stehen auf den Hinterbeinen. Drei sind es, jetzt vier, und
dann kommt noch einer. Für einen Augenblick könnte man meinen, dass sich
das Zoo-Prinzip umkehrt. Neugierig mustern sie uns. "Vor einigen Jahren",
sagt Gatza, "gab es hier ein Junges, das täglich mit mir Blickkontakt
aufnahm und vor mir mit den Steinen spielte." Was er absurd finde, sei,
dass man Tieren ein Zeitempfinden abspreche und dass sich die Wissenschaft
hinter solchen Thesen verstecke, um ihnen die Todesangst abzusprechen.
"Aber Tiere kennen alles, auch Trauer und Angst. Fast alle haben zum
Beispiel Angst vor Schlangen."
Nicht weit vom Ottergehege stehen drei Zebras in Reih und Glied, wie
festgefroren. Kurz dahinter verbindet eine Holzbrücke den alten Teil des
Zoos mit dem neueren. Rechts von der Brücke weist Gatza auf die Reste eines
Nebeneingangs hin, ein Drehkreuz, das der Schriftsteller Walter Benjamin
stets passiert habe, um den Zoo zu besuchen. "Das war vor dem Krieg. Wie
sah es hier im Krieg aus?" "Im April 45 trafen die Bomben den Zoo, fast
alles wurde zerstört, auch der Spiegelsaal auf der Seite zur Budapester
Straße, der in den zwanziger Jahren ein wichtiger gesellschaftlicher Ort
von Berlin war. Etwa 150 Tiere überlebten, ein Elefant wurde sogar zum
Aufräumen der Trümmer eingesetzt. Wiedereröffnet wurde der Zoo am 1. Juni
des gleichen Jahres."
"Und die Berliner gingen gleich wieder in den Zoo?"
"Vor allem Frauen kamen, Witwen, die Männer und Kinder verloren hatten. Sie
bauten einen starken Kontakt zu den Tieren auf, adoptierten sie geistig und
sprachen mit ihnen. In den 60er Jahren hatte der Zoo dann noch eine andere
Bedeutung. Er führte Berlinern ihre eigene Situation vor Augen: ringsrum
eingemauert zu sein und subventioniert werden zu müssen."
Mathias Gatza weist nun auf die weißen Bänke hin, die von Privatpersonen
gespendet wurden, oftmals von Frauen, wie er sagt. Sie säumen einen der
zahlreichen Wege, die diesen Zoo wie einen Kontinent durchziehen.
Irgendwann taucht das Orientalische Haus auf, es hat den Krieg als einziges
überdauert. Antilopen sind darin zu Hause. Kurz später betreten wir das
Affenhaus. Ein süßlich-muffiger Geruch zieht in die Nase. Das Licht lenkt
die Blicke unmittelbar auf die Tiere. Ein Gorilla sitzt hinter einer
Scheibe, wie in einem Riesenterrarium. Der Anblick erinnert an eine Szene
in Gatzas Buch, in der der Ich-Erzähler ein Gorillababy beobachtet: Es
legte die noch kleine Hand auf eine Scheibe und schaute danach lange auf
den Abdruck, den sie hinterlassen hatte, dann auf die Handfläche,
minutenlang, dann legte es sich die Hand auf den Bauch. Schaute die Hand
an, dann den Bauch.
Den Ich-Erzähler erinnert diese Szene an Hélène, Brauns Frau, die nach dem
Tod ihres Mannes Kontakt zu ihm aufsucht und ihm kurzzeitig auch sehr nah
kommt. Kaum hat er sie geküsst, wandern ihre Finger an die noch feuchte
Stelle ihres Körpers. Das Kapitel endet mit dem Satz: Auf dieser Ebene
können wir überhaupt nicht verschieden sein.
Mathias Gatza sagt, dass er im Affenkäfig oft ältere Frauen beobachte, vor
allem in der Mittagszeit, wie sie stundenlang zu den Tieren sprechen, trotz
schalldichter Scheibe. Dass es junge Mütter gibt, die ihren Kindern hier
einen Befehl zum Staunen erteilen. Und dass Männer das Affenhaus gerne als
Peepshow nutzen: "Die sitzen meistens mit Thermoskannen und Bier vor den
Bonobos und schauen ihnen zu, wie sie Beischlaf haben. Sexualität hat bei
den Bonobos eine wichtige Sozialfunktion."
"Haben Sie eigentlich ein Lieblingstier, Herr Gatza?
Er hält inne, schaut mich mit einem wachen, fast manischen Blick an und
sagt: "Ich habe Angst vor Tieren. Ich traue mich nicht mal, ein Pferd
anzufassen." Er erinnere sich an eine Situation im Raubtierhaus. Zwei
Blinde seien mit ihrem Hund hereingekommen. Der Zoo hatte kurz zuvor neue
Berberlöwen bekommen, die, kaum hätten sie den Hund gesehen, "so laut
brüllten, dass dir die Ohren weggeflogen sind". Die Besucher einschließlich
der Kinder seien schreiend rausgerannt. Gatza sagt: "Das war hoch
gruselig." Seit fast zwei Stunden spazieren wir nun durch den Zoo. Mathias
Gatza hat in dieser Zeit mehrmals das Wort "Parallelwelt" gebraucht.
Je mehr er erzählt, desto mehr spürt man, dass all diese Tiere Statisten in
einer Oase der Abgeschiedenheit und Stille sind, die der Schriftsteller
fast suchthaft aufsucht, um die inneren Stimmen für das Schreiben zu hören.
Vor dem Vogelhaus scheint er ein wenig nervös zu werden. "Da müssen wir
noch rein", sagt er. Im Vogelhaus hat der Ich-Erzähler seines Romans Hélène
kennen gelernt.
Wir betreten ein 50er-Jahre-Refugium, moosbewachsene Fenster, modriges
Holz, Palmengrün. Es riecht nach Wellensittichkäfig. Schräg oben sitzt ein
Nashornrabe mit gelbbunten Backen. Neugierig schaut er auf uns runter, und
kurz könnte man meinen, dass er den Mann im blauen Mantel als alten
Bekannten ausmacht.
Mathias Gatza setzt sich auf die Holzbank. Er lässt seine Blicke schweifen
und schweigt zum ersten Mal an diesem Morgen. Fünf Sekunden, sechs, dann
sagt er: "Hier habe ich das ganze Buch konzipiert. Es gab nie einen Ort in
meinem Leben, wo ich besser nachdenken konnte." In seinem Roman heißt es:
Zwei Soldatenkiebitze stolzieren vor meinen Schuhen auf und ab und picken
an meinen gefrorenen Hosenbeinen, so nahe kommen sie erst nach Hunderten
von Begegnungen.
Mathias Gatza hat (West-)Berlin in seinen 48 Jahren nicht oft verlassen. Er
war in Norwegen und in Brandenburg, in Spanien, Frankfurt und Amsterdam. Er
kennt die Welt aus Büchern. Und aus dem Zoo. Sein manischer Weg endet an
einem Baum, der an einer Weggabelung steht. Runzelig die Haut, knorrig die
Äste. "Diese Eiche ist aus dem Jahre 1460", sagt Mathias Gatza, "da war
Amerika noch nicht einmal entdeckt." Schon als Jugendlicher habe sie ihn
fasziniert: der Umkreis von 800 Metern in jede Richtung ist die größte Nähe
zu fast allen Tieren, die die Schöpfung hervorgebracht hat.
22 Mar 2011
## AUTOREN
Tomas Niederberghaus
## TAGS
Reiseland Deutschland
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