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# taz.de -- Neues Radiohead-Album: Hymne an die diebische Elster
> Poetisch, aufregend, psychedelisch: "The King of Limbs", das neue Album
> von Radiohead, ist ein verästeltes Gesamtkunstwerk. Im Netz ist es zu
> hören und wird viel diskutiert.
Bild: "No one gets hurt", singt Yorke und entführt in Traumwelten: Radiohead.
Endlich ist Frühling, selbst die ältesten und majestätischsten Bäume
beginnen langsam zu erblühen. Nach einem dieser hölzernen Giganten haben
die britischen Avantgarde-Rocker Radiohead ihr neues Album benannt, das den
Titel "The King of Limbs" trägt. Zwar erscheint der König der Äste erst am
25. März, für seine Rezeption ist dieser Termin allerdings zweitrangig. Die
begann schon, als das Thermometer noch im Minusbereich stagnierte.
Denn wie das bei Radiohead mittlerweile so Usus ist, hat der
ausgeschriebene Veröffentlichungstag nur noch herzlich wenig mit der
Möglichkeit zu tun, auf ihre neue Platte zuzugreifen. Seit sich die fünf
Oxforder um Thom Yorke vor vier Jahren, nach sechs gemeinsamen Alben, aus
den Fängen ihres Plattenlabels EMI befreit hatten, verstehen und
projizieren sie sich als Pioniere des modernen, autonomen Selbstvertriebs.
Der Prototyp dieser Entwicklung war ihr erstes selbstvermarktetes Album "In
Rainbows" aus dem Jahr 2007, das zunächst nur über die Homepage der Band zu
erwerben war - und für das der Konsument den Preis selbst bestimmte: Das
Pay-what-you-want-Prinzip. Dieses alternative Verfahren zur Festschreibung
eines künstlerischen Warenwerts rief allerdings auch zahlreiche Kritiker
auf den Plan. So machte etwa Gene Simmons, seines Zeichens
Wirtschaftsweiser und Bassist der Band KISS, Radiohead für den Niedergang
der Plattenindustrie verantwortlich.
Das war dann freilich doch zu viel der Ehre. Denn da die verwöhnte, sich
ebenfalls autonom wähnende Generation Pirat anscheinend doch nicht
hinlänglich tief in die Tasche greifen wollte, haben Radiohead für "The
King of Limbs" wieder einen digitalen Festpreis angesetzt: Für 7 Euro ist
man hier moralisch und musikalisch auf der sicheren Seite, also ihrer
Homepage.
Um sich seiner Konsumentscheidung ganz sicher sein zu können, kann man sich
das Album vorher auch noch kostenlos im Stream anhören. Dieser wiederum
ersetzt den guten alten Plattenspieler im Plattenladen des Vertrauens. The
times they are a-changing. Wo man früher, mit Kopfhörern vom Rest der
Außenwelt abgeschottet, die potentielle Neuerwerbung vorab auf Herz und
Nieren prüfte, steht heute ein Vorabstreaming im Netz bereit, um sich den
neuen heißen Scheiß schon mal am heimischen Rechner zu Gemüte führen zu
können.
## "Maddening itchy excited-but-frustrated feeling"
Diese gerade auch von Radiohead forcierte Entwicklung trägt derweil zu
zweierlei bei: Zum einen geht die kribbelnde Vorfreude verloren, welche
einen früher die Tage bis zur Veröffentlichung einer lang ersehnten Platte
herunterzählen ließ und welche der britische Popjournalist Simon Reynolds
in einem seiner Blogbeiträge treffend als "maddening itchy
excited-but-frustrated feeling" bezeichnet.
Vielmehr wird man heute unvorbereitet konfrontiert und damit auch jedes Mal
aufs Neue einer kleinen innerlichen Adventszeit beraubt. Aber Zeiten ändern
dich, wie schon Raum-und-Zeit-Philosoph Bushido verkündete, und lassen sich
eben nicht zurückdrehen. Und so bringt es wohl wenig, dem offlinen
Zeitalter hinterher zu trauern, schließlich genießt man ja auch täglich die
Verlockungen seiner Überwindung.
Zum anderen verändert sich aber auch der mediale Umgang mit neuen Platten
durch Vorabstreaming und digitale Vorabveröffentlichungen. Am Valentinstag
verkündeten Radiohead für Fans wie Musikredaktionen völlig überraschend,
dass innerhalb der nächsten Tage ihr neues Album digital veröffentlicht
wird und für jeden Interessierten zeitgleich zugänglich ist. Ein sicherlich
bewusster Schachzug, um die Deutungshoheit der Musik- und Popkritik zu
untergraben, in dem diese ihres gewohnten Zeitbonus beraubt wurde.
Im Netz sind alle gleich. Im Minutentakt schossen am 18. Februar, dem
Streaming-Day, Meldungen, Meinungen und Mutmaßungen über die neue Platte in
den Äther. Eine bewusste Auseinandersetzung, ein kritisches Abwägen eines
Urteils wurde unmöglich, wollte man up to date sein.
Nun hat diese Platte aber, wie zu erwarten, eine intensive Beschäftigung
durchaus verdient, denn sie wäre keine Radiokopf-Geburt, könnte man sie
sich im ersten Durchlauf erschließen. Los geht der Spaß mit einem nervösen
Erblühen. Über das einleitende Piano legen sich beim Opener "Bloom" schnell
verkratzte Synthesizer, und eine Marsch-Trommel gibt den Takt vor, auf dem
Thom Yorkes gedehnt wehklagende Stimme von einem Tauchgang durch den Orbit
berichtet.
## Wunderbare Traumwelten
Das ist entrückt, verzwickt, anstrengend und für Pop fast schon
überambitioniert. Aber das ist Thom Yorke ja nicht erst seit vorgestern
reichlich schnuppe. Und auch wenn im zweiten Stück der Platte, "Morning Mr.
Magpie", von Jonny Greenwood, Ed OBrien und Yorke tatsächlich die Gitarren
ausgepackt werden, bleiben alte Brit-Pop-Zeiten in der Mottenkiste. Viel
eher verfällt diese Uptempo-Hymne an die diebische Elster in funkige
Gefilde, während nur noch Yorkes hypnotische Falsett-Stimme das zuckende
Tanzbein in Trance hält.
Der seit dem 1997er Album "OK Computer" zu beobachtende Verbindungswille
zwischen ihren Rock-Wurzeln und elektronischen Einflüssen durchzieht auch
"The King of Limbs". Ergänzt wird diese gewohnte Melange aber durch eine
ungewohnt hervorstechende rhythmisch-perkussive Orientierung, welche man
Drummer Phil Selway nach seinem kürzlich veröffentlichten Folk-Album gar
nicht mehr recht zugetraut hätte.
Hinzu kommen zahlreiche Reminiszenzen an den derzeit allgegenwärtigen
(Post-)Dubsteb, welcher von London aus ja bekanntlich gerade die Welt im
Sturm erobert. Gerade "Feral" ist hierfür exemplarisch, ein ungreifbares
instrumentales Geflecht, das nur von einem wummernden, wabernden,
sprunghaften Bass zusammengehalten wird und für seine psychedelische
Wirkung noch nicht einmal auf Yorkes Gesang angewiesen ist.
## Liam Gallagher spricht
Wenn es dann mal scheint, dass der Zappelphilipp gerade die Gedankenschwere
überwunden hat, entführen Radiohead ihre Zuhörer mit der Piano-Ballade
"Codex" in eine der wunderbarsten Traumwelten, die die Band bisher
geschaffen hat. Zarter, verletzlicher kann man die Schönheit der
Traurigkeit kaum fassen, und da scheint es fast ein Widerspruch, wenn Yorke
verspricht: "No one gets hurt". Wen dieses Stück, gerade beim Einsetzen der
völlig kitschfreien Streicher, nicht packt, der braucht vor Verletzungen
ohnehin keine Angst zu haben.
Mit "The King of Limbs" ist Radiohead ein verästeltes Gesamtkunstwerk
gelungen, das sich immer wieder dem Zugriff und der Einordnung zu entziehen
vermag. Jedes einzelne Stück würde wohl genug Stoff für eine
musiktheoretische Master-Arbeit hergeben, und so bleibt eine
Urteilsbildung, noch dazu eine erzwungen vorschnelle, ein gewagtes
Unterfangen.
Im schlechtesten Fall geht es einem dabei nämlich wie Ex-Oasis- und
Neu-Beady-Eye-Sänger Liam Gallagher, welcher angesprochen auf "The King of
Limbs" zum Besten gab: "I heard that fucking Radiohead record and I just
go, ,What?!'? Them writing a song about a fucking tree? Give me a fucking
break! A thousand year old tree? Go fuck yourself! Youd have thought hed
have written a song about a modern tree or one that was planted last week.
You know what I mean?" Nee, nicht direkt.
22 Mar 2011
## AUTOREN
Tobias Nolte
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