# taz.de -- Debatte Anti-AKW-Demos: Der Protest wird pathologisiert | |
> Der Kampf um den Atomausstieg ist noch längt nicht entschieden. | |
> Propagandisten der Atomlobby reden die Katastrophe von Fukushima schon | |
> wieder klein. | |
Bild: Großdemonstration gegen die Atompolitik der Bundesregierung am 26. März… | |
In den ersten Tagen nach der Atomkatastrophe von Fukushima konnte man den | |
Eindruck haben, als wäre plötzlich ein Vorhang aufgegangen und eine neue | |
Welt zum Vorschein gekommen: "Das Restrisiko", erklärte der Umweltminister, | |
"ist seit Japan keine statistische Größe, sondern eine reale" - als ob die | |
Gefahr zuvor nicht ganz genauso real gewesen wäre. | |
Was wir gegenwärtig erleben, ist also keine Revolution der Tatsachen, | |
sondern eine Revolution der Rezeption dieser Tatsachen. In der Wissenschaft | |
würde man von einem Paradigmenwechsel sprechen. Thomas S. Kuhn hat dessen | |
Charakteristika bereits vor 50 Jahren in seinem Klassiker "Die Struktur | |
wissenschaftlicher Revolutionen" beschrieben. Ein altes Paradigma wird in | |
der Wissenschaft demnach nicht progressiv, in vielen kleinen Schritten, | |
sondern nur revolutionär abgelöst - und zwar erst dann, wenn die Argumente | |
des neuen Paradigmas so übermächtig geworden sind, dass sich das alte nicht | |
mehr halten lässt. | |
In der Politik gilt das umso mehr. Mit der Katastrophe von Fukushima ist | |
das Paradigma der sicheren, da angeblich beherrschbaren Atomkraft massiv | |
ins Wanken geraten. Hierin besteht der von Mathias Greffrath beschriebene | |
Kairos, der günstige Moment, der AKW-Gegner ([1][taz vom 23.3.]). Doch zu | |
voreiliger Siegesgewissheit besteht trotz der beeindruckenden | |
Demonstrationen vom Wochenende kein Anlass. Denn schon einmal, nach dem GAU | |
von Tschernobyl vor 25 Jahren, wurde die Gefahr der Atomkraft von der | |
Mehrheitsgesellschaft anschließend radikal verdrängt - auch dank des | |
massiven Drucks der Atomlobbys. | |
## Romantische Leidenschaften | |
Auch diesmal sind die alten Atompropagandisten keineswegs geschlagen, im | |
Gegenteil. Exemplarisch zeigt sich dies in Springers Welt, seit Jahren | |
publizistisches Hauptorgan bei der Bekämpfung der Umweltbewegung. Dort | |
versuchten in den letzten Tagen ironischerweise fast ausschließlich | |
ehemalige Linke oder Grüne, den aufkeimenden Protest mit allen Mitteln der | |
ideologischen Denunziation zu bekämpfen. | |
Statt Empathie mit den Japanern zu üben, herrsche "sadomasochistisches | |
Super-GAU-Gedröhne" (Andrea Seibel) und, so Exchefredakteur Thomas Schmid, | |
vor langen Jahren Mitstreiter in Joschka Fischers "Revolutionärer | |
Kampf"-Gruppe, eine "trübe Katastrophensehnsucht im Volk", das sich | |
"instinktsicher und ohne jedes Zögern in die Ausstiegseuphorie" flüchtet. | |
Dass in den vergangenen strahlend-sonnigen Tagen alles andere als | |
Untergangsstimmung zu spüren war, kann Schmid nicht irritieren, der zu ganz | |
schwerem charakterologischen Geschütz greift: "1945 hatten die Deutschen | |
ihr Reservoir an romantisch-politischer Leidenschaft bis zur Neige | |
ausgeschöpft, mit entsetzlichen Folgen." Doch dieser "romantische Raum" | |
lebt laut Schmid weiter fort: "Es ist, als habe sich die politische | |
Erregungsbereitschaft ganz unter das schwere Dach der Anti-Atom-Kathedrale | |
geflüchtet, um dort eingehegt und mit den besten menschheitlichen Absichten | |
gepflastert zu überleben." | |
Ist es schon atemberaubend genug, wie hier bei Schmid aus dem rassistischen | |
Hass der Deutschen eine "romantische Leidenschaft" wird, erkennt man | |
sogleich, wozu diese Verniedlichung taugt: Hatte Götz Aly mit seinen | |
Kontinuitätslinien der NS-Zeit noch bei 68 und der RAF Schluss gemacht, | |
geht Thomas Schmid weiter und nimmt gleich die ganze Bewegung der 70er und | |
80er Jahre in "romantische" Geiselhaft: "Wie zum Ausgleich schufen sich die | |
Deutschen, anschwellend seit den 70er Jahren, im Anti-Atom-Diskurs einen | |
neuen Raum der Leidenschaft, in dem von Anfang an eine vage, nicht zähmbare | |
Angst den Ton angab. […] Da Angst nicht begründungspflichtig ist, konnte | |
die Anti-Atom-Bewegung es sich leisten, alle Gegenargumente zu missachten, | |
sich wort- und broschürenreich dem Diskurs zu entziehen und sich | |
gewissermaßen genetisch im Recht zu fühlen." Hier zeigt sich Schmids | |
eigentliches Motiv: die Diskreditierung der rationalen Argumente der | |
Atomkraftgegner durch deren Pathologisierung. | |
## Rationalität der Kernkraft | |
Wie rational dagegen der Betrieb von AKWs ist, weiß Schmid-Adlatus Gerd | |
Held, der die ganze höhere Rationalität der Kernkraft freilegt: "Wer | |
trotzdem an der Kernenergie festhält, tut dies, weil er andere, größere, | |
tiefer verwurzelte Gefahren sieht: die Gefahr, dass Wärme und Nahrung, | |
Arbeit und Mobilität für viele Nationen unbezahlbar werden. Die Gefahr der | |
Erschöpfung der Erde durch Raubbau und CO2-Emissionen. Diese Bedrohungen" - | |
so Held weiter, und da wird es vollends abenteuerlich - "verändern den | |
Charakter der Kernenergie. Sie ist keine menschliche Willkür-Entscheidung, | |
sondern wird aus einer Zwangslage betrieben. Fast" - versteigt sich Held | |
endgültig - "könnte man hier [gemeint ist das Hochtechnologieland Japan - | |
ein Schelm, wer nicht auch an Deutschland denkt] von einer Pflicht | |
sprechen, die Last der Kernenergie auf sich zu nehmen." | |
Zugespitzter könnte die mythologische Überhöhung der Atomkraft zu einer | |
fast schicksalshaften Notwendigkeit nicht erfolgen. Ulrich Beck, der Autor | |
der "Risikogesellschaft", erkannte bereits frühzeitig diese | |
"Risikodramaturgie" in Form eines "Verdrängungswettbewerbs der | |
Großrisiken". Man müsse die atomare Gefahr gar "nicht mehr leugnen - nur | |
die anderen Gefahren als noch größer hinstellen". Genau dies ist in den | |
letzten Jahren geschehen, mit Erfolg: Die drohende Klimakatastrophe und die | |
notwendigen Kohlendioxid-Reduktionen dominierten die globalen Diskurse. Auf | |
diese Weise konnte die völlig andere Gefahrendimension von Plutonium | |
minimiert und die Atomkraft als "grüne Brückentechnologie" verkauft werden. | |
Wenn die Ideologen der Welt nun Fukushima gar zur "Semikatastrophe" | |
(Matthias Horx) kleinreden, knüpfen sie direkt an diesen Strang an. Hier | |
zeigt sich: Der Kampf um den endgültigen Ausstieg aus der Atomkraft ist | |
noch lange nicht gewonnen. Aus den letzten 25 Jahre seit Tschernobyl zu | |
lernen bedeutet daher vor allem eins: die existenzielle Erfahrung der | |
völligen Unbeherrschbarkeit der Kernenergie nicht ein zweites Mal zu | |
verdrängen. Mit Atomkraft, so die Lehre von Hiroshima bis Fukushima, gibt | |
es keine Sicherheit ! | |
27 Mar 2011 | |
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## AUTOREN | |
Albrecht von Lucke | |
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