# taz.de -- Aus "Le Monde Diplomatique": AKW mit 3.000 Sicherheitsmängeln | |
> Im indischen Jaitapur will der französische Konzern Areva mitten im | |
> Erdbebengebiet das weltgrößte AKW bauen. Gegner des Projekts werden | |
> schikaniert und verfolgt. | |
Bild: Neulich auf der Anti-AKW-Demo in Mumbai. | |
Noch im abgelegensten Dorf kennt man den französischen Kernkraftkonzern | |
Areva - er ist mit 9,5 Milliarden Euro Jahresumsatz der weltweit größte | |
Atomkonzern - und seinen Europäischen Druckwasserreaktor (EPR). In den | |
Bergen der Westghats, die sich südlich von Mumbai entlang der indischen | |
Westküste erstrecken, sind Begriffe wie Radioaktivität, Plutonium und | |
giftiger Atommüll jedem geläufig. | |
Die atemberaubend schönen Dörfer im Hinterland von Jaitapur im Bundesstaat | |
Maharashtra liegen innerhalb eines "Biodiversitätszentrums", das zu den | |
zehn wichtigsten der Welt zählt. Genau hier sollen demnächst sechs 1 | |
650-Megawatt-Reaktoren von Areva stehen. | |
Die staatliche Nuclear Power Corporation of India (NPC) hat beschlossen, | |
dass ihr französischer Partner Areva in Jaitapur die größte Atomkraftanlage | |
der Welt errichten soll. Auch wenn das die Entwurzelung von 40 000 Menschen | |
bedeutet, deren Lebensunterhalt auf den natürlichen Ressourcen und | |
Produkten des Ökosystems beruht: Reis, Hirse, Linsen, Gemüse, Kräuter, | |
Fische und Früchte, zu denen auch die unglaublich köstliche Mangosorte | |
Alphonso gehört. | |
Die Regierung des Bundesstaats Maharashtra unterstützt das Projekt, wie sie | |
nur kann. Ministerpräsident Prithviraj Chavan war bis vor kurzem als | |
Staatsminister in der indischen Zentralregierung für Nukleartechnologie | |
zuständig und sitzt nach wie vor in der indischen Atomenergiekommission, | |
die auch die politische Aufsichtsinstanz der NPC ist. | |
Am 27. Februar reiste Chavan nach Jaitapur, um auf einer öffentlichen | |
Versammlung die Vorzüge des Projekts anzupreisen. Unter den rund 8 000 | |
Anwesenden fand sich nur ein einziger Befürworter - ein Grundbesitzer, der | |
schon lange in Mumbai wohnt. Kurz nach Chavans Besuch verhaftete die | |
Polizei 22 Aktivisten, denen verschiedene Straftaten - bis hin zu | |
versuchtem Mord - angelastet werden. | |
In Wahrheit verliefen die Proteste bisher vollkommen friedlich. Die | |
Festnahmen hatten allein den Zweck, die Aktivisten einzuschüchtern und | |
durch langwierige juristische Prozeduren von ihrer regulären Arbeit | |
abzuhalten. Um das Projekt durchzudrücken, arbeitet die Regierung mit allen | |
möglichen Methoden, von der Überredung über finanzielle Anreize und | |
Bestechung bis hin zu Schikanen, Zwangsmaßnahmen und nackter Gewalt. | |
## Entschädigungsangebote erhöht | |
Doch die Bevölkerung von Jaitapur ist genauso fest entschlossen, das | |
Vorhaben zu verhindern. Sie bekämpft es seit vier Jahren mit Plakaten, | |
Kundgebungen, Demonstrationen und zivilem Ungehorsam. Bei meinem jüngsten | |
Besuch war ich von der Stärke der Bewegung beeindruckt: "Sie werden das | |
Atomkraftwerk nicht bauen, nur über meine Leiche", erklärte mir Milind | |
Desai, ein Ayurveda-Arzt aus dem Dorf Mithgavane. "Niemals werde ich meine | |
Heimat, mein Volk und das wunderbare Land hier aufgeben. Ich fühle mich | |
diesem Boden verbunden und werde keiner noch so starken Macht erlauben, | |
diese vitale Gesellschaft zu zerstören." | |
Mehr als 95 Prozent der Leute, deren Land die Regierung mit Hilfe des aus | |
der Kolonialzeit stammenden Enteignungsgesetzes übernommen hat, lehnten die | |
angebotene Entschädigung ab. Von denen, die das Geld annahmen, wohnen die | |
meisten nicht in der Gegend. Die Regierung hat die Entschädigungsangebote | |
inzwischen um das Siebenfache auf 2,5 Millionen Rupien (zirka 40 000 Euro) | |
pro Hektar erhöht. Vergeblich. In keinem der Dörfer, die ich besuchte, war | |
auch nur eine einzige Person aufzutreiben, die das Projekt für annehmbar | |
hält oder glaubt, dass es im Interesse der Allgemeinheit sei. | |
Der Widerstand der Menschen rührt von ihrer Überzeugung, dass das AKW | |
nichts mit ihren Bedürfnissen zu tun hat, dass es ein nicht vertretbares | |
Risiko darstellt, dass die Gefahr von radioaktiven Emissionen bereits im | |
Normalbetrieb besteht und dass auch ein katastrophaler Atomunfall wie in | |
Tschernobyl oder Fukushima nicht auszuschließen ist. Sie wissen aufgrund | |
der Daten, die unabhängige Forscher wie Surendra Gadekar publiziert haben, | |
dass in der Umgebung der Atomreaktoren in Rajasthan (im Nordwesten Indiens) | |
und der Uranminen im Bundesstaat Jharkhand (im Osten) überdurchschnittlich | |
viele Krebserkrankungen und Missbildungen auftreten. | |
Sie befürchten außerdem, dass der im Kraftwerk produzierte radioaktive Müll | |
vor Ort gelagert wird und auf Jahrhunderte die Gesundheit der Bevölkerung | |
gefährdet. "Ich will nicht, dass meine Kinder oder Enkel mit einem | |
Schrumpfkopf oder verkümmerten Gliedmaßen auf die Welt kommen", sagt | |
Praveen Gavankar aus dem Dorf Madban. Für ihn ist Widerstand "die einzige | |
Möglichkeit, Leib und Leben zu retten". In den letzten Jahren hat er sich | |
über Risiken und Kosten der Atomenergie schlaugemacht. | |
## Wo die Pfanzenvielfalt Indiens am größten ist | |
Gavankar weiß zum Beispiel, dass Areva bei seinem Druckwasserreaktor in | |
Finnland mit großen Problemen zu kämpfen hat. Dort entsteht mit Olkiluoto 3 | |
der erste westeuropäische Reaktor seit Tschernobyl. Der Bau hat sich | |
bereits um 42 Monate verzögert, das Budget ist schon jetzt um 90 Prozent | |
überzogen, und die Fertigstellung wird durch einen erbitterten Rechtsstreit | |
zwischen Areva und dem finnischen Betreiber blockiert. Ursprünglich war | |
Olkiluoto 3 als Europas erster "nach marktwirtschaftlichen Prinzipien | |
betriebener" Reaktor gedacht, zum Festpreis von knapp 3 Milliarden Euro. | |
Wer die aufgelaufenen Mehrkosten übernimmt, ist unklar. Gavankar findet | |
skandalös, dass Indien einen Reaktortyp importiert, "der nirgendwo | |
zugelassen ist und bei dem die Aufsichtsbehörden Finnlands, | |
Großbritanniens, der USA und selbst Frankreichs in mehr als 3 000 Punkten | |
Sicherheitsbedenken angemeldet haben". | |
Ähnlich große Bedenken äußert A. Gopalakrishnan, der ehemalige Vorsitzende | |
der mit der Sicherheitsüberwachung ziviler Atomanlagen betrauten | |
Aufsichtsbehörde (AERB): "Beim EPR ist wegen seiner Dimensionen der | |
Neutronenfluss und Abbrand besonders groß. Er produziert viel mehr | |
gefährliche Radionuklide als normale Reaktoren mit ihren 500 bis 1 000 | |
Megawatt. Das hat negative Folgen für die Sicherheit der Brennstäbe und im | |
Falle des Austritts von Radioaktivität für die menschliche Gesundheit. Die | |
Sicherheitsprobleme im EPR sind offenbar gravierend. Ich fürchte, dass es | |
in Indien keine Behörde gibt, die diesen Reaktortyp evaluieren und für | |
sicher erklären könnte. Die AERB hat die nötige Kompetenz ganz sicher | |
nicht." | |
Das indische Atomenergieprogramm sieht Reaktoren und Baureihen vor, die aus | |
den USA, Kanada und neuerdings aus Russland importiert sind. Gopalakrishnan | |
weist zudem darauf hin, dass die Baukosten für einen EPR (vorausgesetzt, | |
die Kosten des finnischen Olkiluoto 3 laufen nicht weiter aus dem Ruder) | |
bei über 200 Millionen Rupien pro Megawatt liegen, für einen indischen | |
Atomreaktor dagegen bei nur 80 bis 90 Millionen Rupien und für ein | |
Kohlekraftwerk bei 50 Millionen. Seine Schlussfolgerung: "Der EPR wird | |
vergoldeten Strom produzieren und die mit ihm belieferten Unternehmen | |
ruinieren. Schlimmer noch, er wird zulasten des ursprünglichen | |
Atomenergieprogramms gehen, das auf einer indischen Version des kanadischen | |
Natururan-Schwerwasser-Reaktortyps beruht. Jetzt auf EPR zu setzen, ist | |
unsinnig und unvernünftig." Ähnliche Ansichten vertreten auch andere | |
Mitglieder des indischen Atomestablishments wie der frühere Vorsitzende der | |
Atomenergiekommission P. K. Iyengar. | |
Fatal ist auch die Entscheidung, dieses Projekt in einer Gegend zu | |
realisieren, die Botaniker als eines der Ökosysteme mit der größten | |
indigenen Pflanzendichte Indiens ausgemacht haben. Die Bedeutung der Region | |
liegt aber nicht nur in ihrer Biodiversität, sondern auch in der darauf | |
beruhenden Land-, Garten- und Fischwirtschaft. In den Westghats entlang der | |
Konkan-Küste zwischen Mumbai und Goa Ghats sind über 5 000 | |
Blütenpflanzenarten, 139 Säugetierarten, 508 Vogelarten und 179 | |
Amphibienarten zu Hause; 325 von ihnen stehen auf der Roten Liste weltweit | |
gefährdeter Arten. In diesem Bergland entspringen auch zwei größere Flüsse, | |
der Krishna und der Godavari, die nach Osten in den Golf von Bengalen | |
fließen. Die ganze Region ist ökologisch so einzigartig, dass man denen, | |
die sie gefährden wollen, eine fast teuflische Zerstörungswut unterstellen | |
muss. | |
Jaitapur liegt in einer seismologisch kritischen Zone der Kategorie IV. Das | |
bedeutet, dass hier Erdbeben bis Stärke 7 auf der Richterskala für möglich | |
gehalten werden. "Allein in den letzten zwanzig Jahren wurde die Region von | |
drei Erdbeben der Stärke 5 und darüber erschüttert", schreibt die | |
Umweltorganisation Greenpeace. "1993 gab es hier ein Erdbeben der Stärke | |
6,3, bei dem etwa 9 000 Menschen ums Leben kamen. Und 2009 stürzte bei | |
einem Erdbeben die Brücke vor Jaitapur ein. Diese Umstände wurden bei der | |
Standortwahl überhaupt nicht berücksichtigt." (1) Unklar ist auch, ob die | |
NPC den Reaktor durch irgendwelche baulichen Maßnahmen "erdbebensicherer" | |
gemacht hat. | |
## 52 Milliarden Liter Wasser ins Meer | |
Die Fischereiflotte der Region besteht aus rund 5.000 Booten. Amjad Borker, | |
ein Fischer aus dem überwiegend muslimischen Dorf Nate, macht sich Sorgen: | |
"Heute sind wir in der glücklichen Lage, unseren Tagelöhnern das Drei- bis | |
Vierfache des Mindestlohns in vielen indischen Bundesstaaten zu bezahlen. | |
Aber das Atomkraftwerk wird uns unsere Lebensgrundlage nehmen. Außer | |
Fischfang haben wir doch nichts gelernt. Wir werden einfach ruiniert, wie | |
die Fischer in der Umgebung von Tarapur (2), wo das erste indische | |
Atomkraftwerk gebaut wurde. | |
Deswegen kämpfen wir gemeinsam mit den Bauern von Jaitapur gegen das | |
Projekt." Die Fischer wissen genau, dass ihnen die strengen | |
Sicherheitsvorkehrungen und die Stationierung der Küstenwache in der | |
Umgebung der Nuklearanlage den Zugang zum Meer erschweren werden. Die | |
Reaktoren sollen pro Tag 52 Milliarden Liter Wasser ins Meer leiten, das | |
fünf Grad wärmer ist als die Meerestemperatur. Die Bombay Natural History | |
Society warnt, dass bereits ein Temperaturanstieg um 0,5 Grad zu vermehrtem | |
Fischsterben führen könnte. | |
Seit Neuestem spielt die Regierung von Maharashtra die religiöse Karte aus | |
und versucht den Widerstand gegen das Projekt zu brechen, indem sie einen | |
Keil zwischen Hindus und Muslime treibt und insbesondere die religiösen | |
Führer und Prediger der Muslime zu vereinnahmen versucht. | |
Wenn es sein muss, kommen auch Zwangsmittel zum Einsatz. Vor kurzem | |
untersagte die Regierung einer Gruppe namhafter Bürger, darunter ein | |
ehemaliger Bundesrichter, ein früherer Chef der Kriegsmarine, der | |
Generalsekretär der Kommunistischen Partei Indiens und mehrere bedeutende | |
Sozialwissenschaftler, die Gegend zu besuchen. Verboten wurde auch ein | |
Volkstribunal über das Projekt, das am 6. und 7. März stattfinden sollte, | |
etliche Aktivisten wurden aus der Provinz ausgewiesen. | |
"Jaitapur ist für das Überleben von Areva entscheidend", meint Vivek | |
Monteiro, ein Physiker und Aktivist aus Mumbai, der sich eingehend mit der | |
Geschichte des französischen AKW-Konzerns beschäftigt hat. "Areva steckt | |
tief in der Krise und benötigt eine gewaltige Kapitalspritze. Wenn Jaitapur | |
durchfällt, wird sich diese Krise weiter verschärfen. Deshalb versuchen sie | |
die indische Regierung mit allen Mitteln dazu zu bringen, das Projekt gegen | |
den Willen der Bevölkerung durchzusetzen." | |
Doch in Jaitapur geht es um mehr als nur die Profite von Areva. Inzwischen | |
sind Indien und China mit ihren Plänen, die Atomenergieproduktion zu | |
verdrei- oder zu vervierfachen, weltweit zum entscheidenden Expansionsmotor | |
der Atomindustrie geworden. Wenn sie mit ihren Plänen scheitern, wird sich | |
der Niedergang der globalen Nuklearindustrie beschleunigt fortsetzen. Dass | |
diese Industrie sich weder mit den Sicherheitsbedürfnissen der Bevölkerung | |
noch mit den basisdemokratischen Prinzipien verträgt, wird derzeit nirgends | |
deutlicher als in Jaitapur. | |
Fußnoten: | |
(1) Siehe | |
[1][www.greenpeace.org/international/Global/international/publications/nucl | |
ear/2010/Jaitapur media briefing headed.pdf]. | |
(2) Das AKW Tarapur liegt etwa 100 Kilometer nördlich von Mumbai und wird | |
ebenfalls von NPC betrieben. 1969 gingen hier die beiden ersten | |
Siedewasserreaktioren Asiens ans Netz. 2006 kamen zwei Druckwasserreaktoren | |
dazu, entwickelt von den indischen Firmen L & T und Gammon India. | |
Aus dem Englischen von Robin Cackett | |
[2][Le Monde diplomatique] Nr. 9466 vom 8.4.2011 | |
8 Apr 2011 | |
## LINKS | |
[1] http://www.greenpeace.org/international/Global/international/publications/n… | |
[2] http://www.monde-diplomatique.de | |
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