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# taz.de -- Debatte Lampedusa: Und ganz plötzlich 250 Tote
> Von außen gesehen, ist Berlusconi nur eine Witzfigur. Doch wenn es gegen
> Flüchtlinge geht, ist sich die politische Klasse in Italien einig: "Sie
> gehen uns auf den Sack."
Bild: Die italienische Insel Lampedusa: 5.000 Migranten aus Tunesien.
Klappe und - Action! Das Skript ist immer gleich, der Protagonist derselbe:
Ein alter, kleiner Mann, der sich das Gesicht mit Kosmetika vollschmiert
und vier Zentimeter hohe Absätze trägt; ein gnadenloser Egozentriker, der,
um weniger egozentrisch zu wirken, idiotische Versprechungen macht. Und je
frenetischer die Menge ihm zujubelt, desto mehr legt er sich ins Zeug: " Ab
morgen erlöse ich euch von allen Sorgen!" Applaus. "Ich werde mir hier eine
Villa kaufen!" Applaus. Ein Golfplatz wird entstehen und, warum nicht, ein
Spielkasino. Noch mehr Applaus.
Das Ganze spielt sich aber nicht wie 2009 in den Ruinen der vom Erdbeben
zerstörten Stadt LAquila ab, sondern auf einer winzigen Insel im
Mittelmeer: auf Lampedusa, an dessen Stränden Menschen aus Nordafrika nicht
landen, um an die Roulettetische zu kommen: Sie werden als Leichen
angeschwemmt oder als Verzweifelte, die einfach nur froh sind, die
Überfahrt überlebt zu haben.
Ganz Europa fragt sich: Warum hören sich die Italiener diesen Mist immer
noch an? Die Antwort ist so einfach wie traurig: Sie haben keine
Alternative. Um diese These zu belegen, muss man einen Schritt zurückgehen.
Am 17. März 2011 feiert ganz Italien sein 150-jähriges Bestehen als
Nationalstaat. Ganz Italien? Nein! Eine gar nicht kleine, xenophobe und
separatistische Partei, die Lega Nord, macht nicht mit.
Dabei ist sie Koalitionspartner in der Regierung von Ministerpräsident
Berlusconi. Im Jahr 2011 jährt sich auch zum 100. Mal der italienische
Kolonialüberfall auf Libyen - und schließlich beschließt die UNO eben am
17. März die Resolution 1973, die die Internationale Gemeinschaft zur
Errichtung einer Flugverbotszone über dem nordafrikanischen Staat
ermächtigt.
## Gefahr einer "kolonialen Intervention"
Italiens Außenminister Frattini ist ausnahmsweise einmal nicht in Urlaub,
wenn eine außenpolitische Krise ins Haus steht. Zur großen Freude von
Verteidigungsminister La Russa - einem Postfaschisten der Koalitionspartei
Nationale Allianz - kündigt er an, sich an der Militäroperation zu
beteiligen. Eigentlich gibt es dazu auch keine Alternative: Italien ist von
seiner geografischen Lage her die ideale Ausgangsbasis für die Überwachung
des libyschen Luftraums. Und doch beginnt sofort der politische Streit.
Die Demokratische Partei (PD) und der sogenannte Dritte Pol - ein
Sammelsurium von Überläufern aus Regierung und Opposition - stimmen der
UN-Resolution zu. "Italien der Werte" (IdV), die Oppositionspartei des
Exstaatsanwalts Antonio di Pietro, sieht hingegen die Gefahr einer
"kolonialen Intervention" und findet sich damit überraschenderweise in
Übereinstimmung mit ihrem politischem Hauptgegner, der Lega Nord: Roberto
Calderoli, "Minister für Vereinfachungen in der Gesetzgebung" und
berüchtigt für seine geschmacklosen antiislamischen Provokationen, erklärt,
es müsse eine parlamentarische Aussprache stattfinden, um sicherzustellen,
dass sich die Intervention nicht in eine neue Kolonialisierung verwandelt.
Das Wahlvolk der Lega versteht gar nichts mehr. Parteichef Umberto Bossi
muss erklären, warum sich die Fremdenhasser plötzlich um humanitäre
Angelegenheiten sorgen sollen. Auf die Frage, wie die Regierung mit dem
wachsenden Strom von Bootsflüchtlingen auf Lampedusa umgehen wolle,
antwortet er: "Sie gehen uns auf den Sack. Wir werden sie loswerden." Und
Berlusconi? Sagt gar nichts außer dem Satz, der viele perplex zurücklässt:
"Es schmerzt mich, was mit Gaddafi geschieht."
PD und IdV, die bisher nicht allzu laut gegen Berlusconis Freundschaft mit
dem libyschen Diktator protestiert hatten, legen jetzt los. Und in der Tat
geht es ja um mehr als eine durch "Bunga-Bunga"-Spielchen genährte
Wahlverwandtschaft. Seit dem Freundschaftspakt von Bengasi aus dem Jahr
2008 sind Libyen und Italien enge Verbündete, wirtschaftlich vielfältig
verbandelt und vor allem einig in der Abwehr von Flüchtlingen von den
italienischen Küsten. Berlusconis Handkuss für Gaddafi ging um die Welt.
Dass auch die Abgeordneten der PD dem Vertrag zustimmten, macht hingegen
kaum Schlagzeilen.
Die Debatte über die Intervention nimmt nun mit vielen Widersprüchen,
Beleidigungen und Eifersüchteleien quer durch alle Lager ihren Lauf.
Berlusconi hält sich raus, Di Pietro nennt ihn ein "Kaninchen". Am 26. März
kommt es schließlich zur Abstimmung: Die Vorlagen von Regierung und
Opposition sind identisch! Beide sprechen sich für die Teilnahme Italiens
aus: So kaufen Eltern, um keinen Ärger zu bekommen, beiden Kindern das
gleiche Spielzeug.
## Grundsätzlich ja, praktisch nein
Inzwischen ist die Lage auf Lampedusa immer kritischer geworden. Die Rede
ist von 5.000 Migranten aus Tunesien, das nur 113 Kilometer entfernt liegt.
Sie müssen im Freien schlafen, es fehlt an Essen und Medikamenten. Die
Einwohner der Insel fordern die Politik verständlicherweise auf, etwas zu
unternehmen. Aber es ist nicht so, dass die sie vergessen hätte. Jeden
Abend sieht man Politiker im Fernsehen, wie sie um die Definition dieses
Zustroms streiten: Sind es nun Wirtschaftsflüchtlinge? Oder vielleicht doch
Menschen, die gewaltsam aus ihrer Heimat vertrieben wurden? Haben sie also
ein Anrecht auf Hilfe? Aber wer hätte das nicht alles -!
Aus den 5.000 werden 8.000. Und nun sind wir wieder bei Berlusconis Rede
auf der Insel. Er verkündet die Aufteilung der Flüchtlinge über ganz
Italien. Von den 20 Regionen des Landes erklären sich nur 8 bereit,
Auffanglager einzurichten. Unter denen, die ablehnen, sind keineswegs nur
die von der Lega dominierten im Norden: Auch die Marken, Umbrien und die
Toskana - von den Demokraten regiert - verweigern sich de facto, während
ihre Repräsentanten ein mehr oder weniger interessiertes TV-Publikum an
ihren Reflexionen über die grundsätzliche Notwendigkeit humanitärer Hilfe
teilhaben lassen.
Am 6. April, um 4 Uhr morgens, nur eine Woche nach dem großen Auftritt des
Ministerpräsidenten, treiben dann 250 Leichen auf dem Meer vor Lampedusa,
Männer, Frauen und Kinder, die meisten aus Eritrea und Somalia. Kann das
alles irgendwer verstehen? Und doch ist es der Grund, warum die Italiener
nicht aufhören, Berlusconi zu wählen.
Übersetzung: Ambros Waibel
8 Apr 2011
## AUTOREN
Riccardo Valsecchi
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