# taz.de -- "Morgentau"-Regisseur über Idealismus: "Soll man schlucken oder ko… | |
> Ein Gespräch mit dem äthiopischen Regisseur und Film-Professor Haile | |
> Gerima über Sozialismus, Heimat und seinen neuen Film "Morgentau". | |
Bild: Szene aus "Morgentau". | |
taz: Haile Gerima, Ihr Protagonist wird in Deutschland von Nazis ins Koma | |
geprügelt. Im Film ist nicht klar zu erkennen, wo das genau geschieht, in | |
Leipzig oder Köln? | |
Haile Gerima: Ich habe das absichtlich offen gelassen. Das kann nicht nur | |
in Ostdeutschland passieren, sondern auch im Westen. Als wir gedreht haben, | |
wurde ein Äthiopier in Berlin fast zu Tode geprügelt. Ursprünglich sollte | |
"Morgentau" allerdings nicht in Deutschland, sondern in den USA beginnen. | |
Die Unterschiede sind aber nicht so groß. Äthiopische Studenten haben in | |
den USA das Gleiche gemacht wie etwa in Köln: Sie saßen zusammen und haben | |
darüber diskutiert, wie man einen politischen Wandel bei der Rückkehr in | |
die Heimat herbeiführen kann. | |
Sie haben in den USA studiert? | |
Ja, Ende der 60er kam ich nach Amerika. Ursprünglich wollte ich an die Uni | |
und danach zurück nach Äthiopien. In meiner Generation hatten 99,9 Prozent | |
der Äthiopier, die in Europa, Russland oder den USA studierten, vor, wieder | |
zurückzukehren, um die Gesellschaft in ihrer Heimat zu verbessern. Heute | |
wollen die Leute in der Ferne bleiben, dort arbeiten und reich werden. | |
Wie haben Sie die späten 60er Jahre erlebt? | |
Europa und Amerika veränderten sich, die junge Generation nahm die | |
Geschichte in die Hand, die ausländischen Studenten waren Teil dieser | |
Bewegung, aber zugleich hatten sie eigene Probleme, um die sie sich kümmern | |
mussten. Auf mich hatten die Black-Power-Bewegung, die | |
Unabhängigkeitsbewegungen in den afrikanischen Ländern und Che Guevara | |
großen Einfluss. Für mich war es sehr aufregend, Teil dieses historischen | |
Prozesses zu sein. | |
Sie arbeiten seit den 70er Jahren in Washington. Ist es für Sie schwer zu | |
sagen, was Heimat ist? | |
Sehr. Es ist ja nicht wie bei Prometheus, der das Feuer holt und einfach | |
zurückkehrt. Man geht in die Ferne, um Fortschritt und Wissenschaft ins | |
eigene Land zu bringen, aber die Reise entwurzelt dich, sozial, politisch, | |
kulturell. Man verliert den Boden unter den Füßen. Man kann weder hier sein | |
noch dort. Man hängt in der Luft, besonders als Intellektueller, der | |
soziale Veränderungen bewirken will. | |
Von diesen Problemen handelt auch "Morgentau". Würden Sie sagen, es ist Ihr | |
bislang persönlichster Film? | |
Ja, es ist der erste Film, in dem ich meine Kindheit erkunde und den Ort, | |
wo ich aufgewachsen bin. Ich kann ihn immer noch riechen, das Essen | |
schmecken. Es ist kein autobiografischer Film, aber ich habe viel von | |
meiner Geschichte und der anderer äthiopischer Intellektueller reingepackt, | |
die mit der Frage konfrontiert sind, was Heimat ist. Ich weine bei vielen | |
Szenen von "Morgentau", weil sie mir so nahegehen. Heißt das, dass alles | |
biografisch ist? Nein. Kann man den Film als kollektive Geschichte | |
bezeichnen? Ich weiß es nicht, aber ich habe mein Bestes gegeben. | |
Ihr Film handelt von der Machtlosigkeit der linken Intellektuellen. | |
Ich mag keine Ungerechtigkeit, aber ich kann nichts ändern. Man fühlt sich | |
kastriert. Ich gehe mit einem reichen Äthiopier essen und sehe aus dem | |
Fenster ein Kind auf der Straße, das mit den Hunden aus dem Rinnstein isst. | |
Was soll man tun? Soll man schlucken oder kotzen? Ich habe keine Antwort | |
auf dieses Dilemma. | |
Wie sehen Sie den Sozialismus heute? | |
Wenn man heute Marx oder Gramsci liest, sollte man sie mehr wie andere | |
Literatur auch behandeln. Sie hätten nicht dogmatisiert werden dürfen. Der | |
größte Fehler meiner Generation war, aus diesen Theorien eine Religion zu | |
machen. Leider war der Sozialismus mit einem menschlichen Gesicht nicht in | |
der Lage, über das faschistoide Gesicht des Sozialismus zu triumphieren. | |
Aber das heißt nicht, dass ich heute alles verdamme; die Idee eines blinden | |
Kapitalismus, in dem alles zu verkaufen ist, ist genauso schlimm. Damals | |
versprach der Kommunismus viel: Man kam aus einer unterdrückten | |
Bauerngesellschaft und wollte die Dinge ändern. Und manchmal wird man dabei | |
blind. Die meisten der linken Äthiopier kamen übrigens nicht aus der DDR | |
oder Russland, sondern aus den USA und Westeuropa. Hamburg war eine | |
Hochburg. | |
Im Film nennen die linken äthiopischen Guerilleros Albanien als ihr | |
Vorbild. Hat man tatsächlich in Äthiopien an die albanische Variante des | |
Kommunismus geglaubt? | |
Ich habe das wörtlich aus einem TV-Interview genommen. Russland taugte als | |
Vorbild nicht mehr, China ebenso. Albanien war die letzte Möglichkeit. | |
Äthiopische Bauern kannten nicht mal den Unterschied zwischen Russland und | |
China, wie sollen sie da wissen, was in Albanien los war? | |
Wie reagieren eigentlich Äthiopier auf "Morgentau"? | |
Sie saugen die Geschichte komplett auf. In einigen Fällen geht es so weit, | |
dass sie die Grenze zwischen Realität und Fiktion kaum mehr ziehen können. | |
Dadurch dass die Äthiopier durch so viel Leid gegangen sind, sind sie im | |
Kino dermaßen emotional engagiert, dass sie die Bilder kaum mehr rational | |
verarbeiten können. Sie werden mehr zu Zeugen als zu Zuschauern. Wenn es 20 | |
Filme über das Thema geben würde, wäre das wahrscheinlich anders. Ein | |
anderes Beispiel: Mein Film "Sankofa" war sicher nicht perfekt, aber es ist | |
der einzige Film über äthiopischstämmige Amerikaner, den es gibt. Wenn man | |
zu äthiopischen Gemeinden in den USA geht, lassen sie keine Kritik an ihm | |
gelten. Sie lieben ihn. Für einen Filmemacher ist das nicht gut, man denkt, | |
man hätte ein Meisterwerk gemacht. Ich bin aber skeptisch bei blinden Fans. | |
Sie scheinen sehr selbstkritisch zu sein. | |
Ich hoffe, ich werde niemals einen perfekten Film machen. Durch Fehler | |
lerne ich viel. Ich finde mich selber wieder in den Fehlern. Für mich sind | |
die Struktur und der Rhythmus meiner Filme sehr wichtig, auch wenn sie nach | |
den herkömmlichen Definitionen des Kinos primitiv sein mögen. Mich | |
schüchtert das nicht ein. Filmemacher aus der Dritten Welt lassen sich zu | |
schnell einschüchtern. Wenn ich Fehler mache, möchte ich wissen, warum das | |
ein Fehler sein soll. Ich mache Filme, nicht um Geld zu verdienen, sondern | |
um herauszufinden, wer ich bin. Wieso bin ich zum Beispiel so kolonisiert | |
von amerikanischer Kultur, obwohl ich der Sohn eines äthiopischen | |
Dramatikers bin, der weder Shakespeare noch Brecht kannte? Das Kino hat mir | |
die Möglichkeit gegeben, solchen Fragen nachzugehen und meine eigene | |
Identität auszudrücken. | |
5 May 2011 | |
## AUTOREN | |
Sven von Reden | |
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