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# taz.de -- Horst Köhler reist in polnischen Heimatort: Ein später Besuch
> Im Februar 1943 wurde Horst Köhler in Skierbieszow an der
> polnisch-ukrainischen Grenze geboren. Bei seiner Wiederkehr begegnet er
> aufgeschlossenen Menschen.
Bild: Lieber spät als nie: Köhler zu Besuch in Skierbieszow.
SKIERBIESZOW taz | "Ich bin überwältigt von der Offenheit und
Gastfreundschaft, mit der ich hier empfangen wurde", bekennt Expräsident
Horst Köhler in Skierbieszow, einem Dorf an der polnisch-ukrainischer
Grenze. Hier wurde er im Februar 1943 geboren. Die Umstände waren
dramatisch: Polen wurden vertrieben und ermordet, Deutsche eingesiedelt.
Köhler wollte nie über seine frühe Kindheit reden, sagte auch seinen
Biografen kein Wort dazu. Die erste Einladung nach Skierbieszow schlug er
mit einem Verweis auf seine Pflichten als Bundespräsident aus. Doch nun
legt eine 85-jährige Polin ihre Hand vertraulich in die seine und fragt:
"Wissen Sie eigentlich, dass ich Ihnen beim Laufenlernen geholfen habe."
Köhler schießen die Tränen in die Augen.
Seine Eltern hätten nie viel über das Jahr in Ostpolen gesprochen. Nachdem
die Rote Armee in Bessarabien, dem heutigen Moldau, einmarschiert war,
musste die Familie ihre Habseligkeiten packen. Die Nazipropaganda gab das
Ziel vor: "Heim ins Reich". Doch es ging nicht ins Altreich. Vielmehr
sollten die Bessarabier, Galizier und Bukowina-Deutschen als Herrenmenschen
den neuen Lebensraum im Osten besiedeln.
Die Köhlers kamen in den Raum Zamosc, das sogenannte Sonderlaboratorium der
SS. Hier sollte die Bevölkerung komplett ausgetauscht werden. Juden wurden
ermordet, Polen je nach ihrer Arbeitsfähigkeit zur Zwangsarbeit ins
Deutsche Reich oder in ein NS-Konzentrationslager verschickt. "Rassisch
wertvolle Kinder" wurden den polnischen Eltern geraubt und zur Adoption an
verdiente SS-Männer und ihre Frauen freigegeben.
## "Raus! Raus!"
Teresa Cieplowicz (75) war sieben Jahre alt, als die Deutschen in der Nacht
plötzlich ins Haus stürmten und brüllten: "Raus! Raus!" Blond und blauäugig
war sie damals. Fast wäre sie auch als "eindeutschungsfähig" ins Reich
transportiert worden. Doch sie hatte Glück und überlebte die Kinderbaracke
in Zamosc. Zuvor hatten die Deutschen die Juden von Skierbieszow auf den
Marktplatz zusammengetrieben und erschossen. "Das war direkt vor unserem
Haus", sagt sie.
"Als die Deutschen dann gegen Kriegsende vor der näherrückenden Front
flohen, fackelten sie alle Häuser rund um den Marktplatz ab. Unseres auch."
Das Leben in Nachkriegspolen war schwer." Doch als die Lehrerin im
Ruhestand hörte, dass Horst Köhler zum Bundespräsidenten gewählt worden
war, unterstützte sie die Einladung. "Wir hofften so auf Versöhnung. Wir
brauchten das. Wir, die Kinder von Zamosc."
Doch Köhler kam nicht. Sechs lange Jahre vergingen. Nichts. "Wir empfangen
ihn natürlich auch heute mit offenen Armen", sagt sie und streicht sich
durch die grauen, noch immer dichten Locken. "In gewissem Sinne ist er doch
auch einer von uns. Aber es ist viel Zeit vergangen, heute bin ich krank
und müde."
Julian Grudzien (73), der Vorsitzende des Verbands der ehemaligen
KZ-Häftlinge in Zamosc, führt Köhler zur Gedenktafel im Schuleingang von
Skierbieszow. Pfadfinderinnen in grauen Uniformen halten Ehrenwache davor.
Kerzen brennen. Die Schule ist den Kindern der Zamosc-Region gewidmet.
Grudzien liest den Text auf der Tafel vor: "Hier mussten sich am 27. 11.
1942 die Skierbieszower und die Einwohner der umgebenden Dörfer sammeln.
Sie sollten vertrieben werden.
Die in dieser Nacht aus dem Schlaf gerissenen Kinder durchlitten zusammen
mit ihren Eltern furchtbare Angst, Tränen, Kälte und den Verlust ihrer
menschlichen Würde. Die Vertriebenen verloren ihr gesamtes Hab und Gut und
wurden als erste Opfer in das NS-Lager in Zamosc eingeliefert, später in
die Vernichtungslager Auschwitz und Majdanek. Sie wurden zur Zwangsarbeit
ins Innere des Dritten Reiches und in die von Deutschen besetzten Gebiete
rund um Siedlce und Warschau verschleppt. Viele von ihnen verloren ihr
Leben und kehrten nicht in die Heimat zurück."
Grudzien und eine kleine Schar ehemaliger Kinder-KZ-Häftlinge tragen ein
symbolisches Häftlingstuch um den Hals. "Köhler konnte ja nichts dafür,
seine Familie auch nicht. Aber es war schon so: Er war auf der Seite der
Herrenmenschen, und wir arbeiteten als Zwangsarbeiter, starben in den KZs
oder verloren als ,rassisch wertvolle Kinder' unsere Identität." Grudzien
kam mit fünf Jahren in die Kinderbaracke des Lagers in Zamosc. Auch er war
blond und blauäugig. Seine Rettung verdankt er einem Zufall und dem
Überlebenswillen seiner damals hochschwangeren Mutter.
## 4.500 Kinder geraubt
Auch Grudzien hatte darauf gehofft, dass Köhler noch als Bundespräsident
nach Ostpolen kommen würde. Dann hätte alle Welt von der Kinderraubaktion
in Zamosc gehört. 4.500 blonde und blauäugige Kinder wurden ihren Eltern
geraubt und ins Deutsche Reich abtransportiert. Drei Züge mit Kindern, die
ins KZ Auschwitz unterwegs waren, konnten die Partisanen in Siedlce kapern
und befreien. "Als wir die erste Einladung an Köhler schickten, waren wir
noch 3.000, heute - da er tatsächlich hier ist - sind wir nur noch 1.000.
So ist das. Je älter man wird, um so weniger Zeit hat man. Wir sterben wie
die Fliegen." Dennoch breitet auch Grudzien die Arme aus und drückt den
Beinahelandsmann an die Brust: "Wir sind froh, dass Sie da sind."
Am Dienstag hatten Horst Köhler und seine Frau Eva Luise bereits das
ehemalige Konzentrations- und Vernichtungslager Majdanek im
südostpolnischen Lublin besucht. Vorgesehen war dies nicht. Doch als von
weitem wie verkohlte Ruinen einer zerstörten Stadt das Mahnmal Strach
(Angst) zu sehen war und dann am Horizont das Mausoleum auftauchte, bog der
Wagen auf Wunsch Horst Köhlers in die ehemalige Lagerstraße ein.
Am Mausoleum steigt er aus. Vor seinen Augen erstreckt sich das Lager bis
zum Horizont, Baracken reihen sich an Baracken, danach kilometerweit grüne
Wiese, irgendwo dazwischen das ehemalige Haus des Lagerkommandanten, ein
Krematorium mit hohem Schornstein und Wachtürme. Köhler geht die Stufen
hinunter. Vor einem Mahnmal bleibt er stehen, liest die Inschrift, will
etwas sagen, doch die Stimme versagt ihm angesichts dieses Codenamens:
"Erntefest! Wie kann man nur?" Mit Mühe unerdrückt er seine Gefühle, wendet
sich abrupt ab.
Majdanek und Auschwitz waren die beiden Vernichtungslager, in die die Nazis
die arbeitsunfähigen und "rassisch wertlosen" Vertriebenen aus dem Raum
Zamosc schickten. Auch von der Familie, die vor der Invasion der Deutschen
im späteren Geburtshaus Köhlers gewohnt hatte, kehrte nach dem Krieg kaum
jemand aus den Lagern nach Skierbieszow zurück. Insgesamt vertrieben die
Deutschen im Sonderlaboratorium SS 110.000 Menschen aus 300 Dörfern,
darunter 30.000 Kinder. "Während bei den Köhlers im Februar 1943 die Geburt
des kleinen Horst gefeiert wurde, starb mein Vater in Auschwitz", erzählt
Julian Grudzien. "Er wurde nur 32 Jahre alt."
## Dreimal angefangen
Köhler nickt. Schließlich sagt er ein paar persönliche Worte, etwas, worauf
alle gewartet hatten: "Wir kommen eigentlich aus Bessarabien. Mitten im
Krieg musste die Familie nach Ostpolen umsiedeln, gegen Kriegsende nach
Ostdeutschland, schließlich nach Westdeutschland. Wir mussten dreimal von
vorne anfangen." Vor allem für die Mutter sei der Aufenthalt in
Skierbieszow ein Albtraum gewesen. Die permanente Angst vor den Partisanen
und ihren Überfällen auf die deutschen Siedler habe ihr fast den Verstand
geraubt. Seine Mutter habe sich als Opfer der Geschichte gefühlt, ohne aber
dadurch die nationalsozialistischen Verbrechen relativieren zu wollen. "Ich
wollte ihr durch meine Fragen das Leben nicht noch schwerer machen."
Für die Skierbieszower ist seine Erklärung einleuchtend. "Köhler ist vorher
nicht gekommen, weil das alles so belastend für ihn war Aber jetzt ist die
Barriere überwunden", sagt Julian Grudzien. Für die Kinder, mit denen er in
der Schuler diskutiert, sind andere Fragen wichtiger: Wie wurden Sie
Präsident? Was war Ihr schönstes Erlebnis als Präsident? Warum sind Sie
zurückgetreten?"
Erleichtert gibt Köhler am Ende seines Besuches das Wort an die Vertreter
der Deutschen Bundesstiftung Umwelt ab. Sie haben zwei Projekte im Wert von
215.000 Euro gewissermaßen als Gastgeschenk Köhlers mitgebracht. Schule-
und Therapiezentrum in Skierbieszow sollen eine moderne Wärmedämmung
erhalten, die zu einer Energieeinsparung von rund 60 Prozent führen sollen.
Zudem soll das Dorf eine biologische Kläranlage erhalten.
12 May 2011
## AUTOREN
Gabriele Lesser
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