# taz.de -- Mittel zur Betreuung von Behinderten gekürzt: Zum Fördern zu behi… | |
> Senat lässt behinderte Menschen, die in Wohnheimen leben, neu | |
> begutachten. Besonders schwer Betroffenen soll weniger Förderung und | |
> Hilfe zustehen. Angehörige schlagen Alarm. | |
Bild: Werkstattfähig oder nicht? | |
Wenn Alina Sander* nach Hause kommt, will sie noch Bus fahren, spazieren, | |
in Konzerte oder zur Kirche gehen. Sagen kann sie das nicht. Sie kann sich | |
auch nicht allein auf den Weg machen. Die 27-Jährige hat eine schwere | |
geistige Behinderung und braucht permanente Betreuung. Das kostet viel Geld | |
und Zeit. Ein Teil davon hat der Senat ihr und hunderten anderen jetzt | |
gekürzt. Eine "Diskriminierung Schwerstbehinderter" sehen Eltern und | |
Betroffenenverbände darin. | |
Alina Sander lebt hinter den Zäunen eines Wohnheims in Lichterfelde. Drei | |
frisch sanierte Flachbauten mit viel Licht und Glas und bunten Farben, | |
dazwischen wächst neuer Rollrasen an. Auf einem Liegestuhl neben der großen | |
Schaukel liegt ein Bewohner. Ein anderer wartet auf den Baggerfahrer, der | |
erst am nächsten Tag wiederkommt. Die Wohnstätte "Prettauer Pfad" ist eine | |
der schönsten in Berlin, die 24 Plätze sind heiß begehrt. | |
Rund 3.100 BerlinerInnen leben in Wohnheimen für Behinderte. 244 Millionen | |
gibt der Senat jährlich für ihre Betreuung und Förderung aus - | |
durchschnittlich 6.500 Euro pro Monat und Betroffenen. Finanziert werden | |
damit die Pflege im Wohnheim, der Fahrdienst zur Werkstatt oder | |
Tagesfördergruppe und die Förderung selbst. Die Krankenkassen geben einen | |
monatlichen Pauschalbetrag von 256 Euro dazu. | |
Bislang war klar: Wer am stärksten beeinträchtigt ist oder am meisten | |
Förderung braucht, bekommt auch die höchste Hilfebedarfsstufe und damit am | |
meisten Geld. Rund ein Fünftel der Berliner HeimbewohnerInnen hatte bisher | |
die höchste Bedarfsstufe, mehr als irgendwo anders in Deutschland. Warum? | |
Weil es so viele WGs und betreutes Einzelwohnen für Behinderte gibt, und im | |
Heim nur die am schwersten Betroffenen leben, sagt der Elternverein | |
Lebenshilfe. Weil nicht ordentlich eingestuft wurde, sagt der Senat. Er hat | |
das "Projekt Heime" ins Leben gerufen, in dessen Rahmen 2010 alle 3.100 | |
BewohnerInnen neu begutachtet wurden. Ein Unternehmensberater hat das | |
System entwickelt. | |
In den vergangenen Monaten flatterten bei Eltern und gesetzlichen | |
VertreterInnen die Bescheide ins Haus. Das Resultat hat viele schockiert: | |
Von fast 700 Menschen mit der höchsten Hilfebedarfsstufe sind keine 200 | |
mehr übrig. Die Elternverbände kritisieren nun, im neuen Verfahren werde | |
die Bedarfsstufe mit der Förderfähigkeit verknüpft. In der Praxis heiße | |
das: Wer zu schwer behindert ist, um etwa selbstständiges Essen zu | |
erlernen, bekommt weniger Geld und Zeit. | |
Das Wohnheim, in dem Alina Sander lebt, hat es besonders getroffen. Die | |
Einrichtung beherbergt nur schwer geistig und mehrfach behinderte Menschen, | |
17 der 24 BewohnerInnen hatten bislang die höchste Hilfebedarfsstufe. Viele | |
von ihnen sitzen im Rollstuhl, andere wollen immer wieder weglaufen, neigen | |
zu Aggressionen oder epileptischen Anfällen. Fast alle müssen permanent | |
betreut werden. Bislang sind zwei bis drei BetreuerInnen für eine | |
Wohngruppe mit acht BewohnerInnen verantwortlich. | |
Edith Panchyrs-Badorf leitet das Wohnheim. Als sie das Ergebnis der | |
Neubegutachtung erfuhr, war auch sie entsetzt: Fast alle BewohnerInnen | |
wurden herabgestuft, kein Einziger hat mehr die höchste Hilfebedarfsstufe. | |
"Da werden Standards infrage gestellt, die wir seit Jahrzehnten für | |
unverrückbar gehalten haben." Laut Lebenshilfe könnte die Einrichtung gemäß | |
der neuen Einstufung nur noch ein bis zwei Kräfte pro Wohngruppe einsetzen. | |
"Dann möchte ich hier nicht mehr arbeiten", sagt Panchyrs-Badorf. "Dann | |
müssten wir mit Medikamenten zur Ruhigstellung arbeiten." | |
Doch nicht nur die Wohnstätten sind mit dem "Projekt Heime" von | |
Einschnitten bedroht. Auch in die Tagesfördergruppen soll das | |
Leistungsprinzip einziehen. Bisher werden hier Menschen gefördert, die zu | |
stark beeinträchtigt sind, um in einer Behindertenwerkstatt zu arbeiten. | |
Einem Gesetzentwurf der Sozialverwaltung zufolge sollen sie künftig nur | |
noch denen offen stehen, die binnen fünf Jahren in eine Werkstatt für | |
Behinderte wechseln können. | |
"In den letzten zwanzig Jahren hat es keiner unserer Betreuten in die | |
Werkstatt geschafft", sagt Dörte Eggers, Leiterin der Tagesfördergruppe | |
Harbigstraße in Charlottenburg. Hier verbringt auch Alina Sander ihre | |
"Werktage": Von 9 bis 15 Uhr beschäftigt sich die junge Frau mit | |
selbstständigem Essen, erfühlt Materialien, kommuniziert mit Kärtchen oder | |
einem Sprachcomputer. Nicht, um später arbeiten zu können, sondern um das, | |
was sie mühsam erlernt hat, nicht zu vergessen. "Wenn wir im Sommer für | |
drei Wochen schließen, macht sich das schon bemerkbar", sagt Dörte Eggers. | |
Wenn Schwerbehinderte wie Sander künftig nicht mehr dezentral in | |
Förderstätten, sondern nur noch kostengünstig im oder nahe des Wohnheims | |
beschäftigt würden - für Eggers käme das einem Rückschritt um Jahrzehnte | |
gleich. In eine Zeit, in der Berliner Schwerbehinderte in einer | |
Spezialabteilung der Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik wohnten und sie den | |
ganzen Tag nicht verließen. | |
"Wir wollen doch niemandem etwas wegnehmen. Das Gesamtbudget bleibt gleich, | |
es wird nur gerechter verteilt", sagt Rainer-Maria Fritsch, Staatssekretär | |
für Soziales. Schließlich schwankten die Kostensätze je nach Heim zwischen | |
135 und 280 Euro pro Tag - für vergleichbare Leistungen und je nachdem, wie | |
gut die Wohnstätte mit dem Senat verhandelt habe. Laut schreien würden | |
jetzt nur die Träger, die bislang am meisten bekämen und am meisten zu | |
verlieren hätten. | |
Doch nicht nur Träger und Eltern schlagen Alarm, auch die Vorsitzende der | |
Deutschen Heilpädagogischen Gesellschaft Monika Seifert ist skeptisch. 2010 | |
legte die ehemalige Professorin der Katholischen Hochschule für Sozialwesen | |
in ihrer "Kundenstudie" moderne Herausforderungen an das Wohnen für geistig | |
und mehrfach behinderte Menschen vor. Von der Sozialverwaltung wurde sie | |
dafür hoch gelobt. "Aber im Projekt Heime hat man die Ergebnisse in | |
keinster Weise berücksichtigt", so Seifert. | |
Die Begutachtungsmethode sei veraltet, fasse die Menschen in Gruppen | |
zusammen, statt auf den Bedarf des Einzelnen zu schauen, und rücke die | |
Förderziele viel zu sehr in den Vordergrund. Schwer beeinträchtigte | |
Menschen, deren Fördererfolg ungewiss ist, würden benachteiligt. "Es geht | |
eben nicht nur um Förderung, sondern vor allem um Teilhabe", sagt Seifert. | |
Werde das Projekt umgesetzt, verliere Berlin den Anschluss an die | |
Entwicklung in anderen Ländern und der Wissenschaft. | |
Noch sind das alles Befürchtungen. Für das Wahljahr 2011 hat der Senat die | |
Mittel bloß eingefroren. Die neuen Bedarfsstufen sind noch Zahlen auf dem | |
Papier, die geänderten Zugangsvoraussetzungen für Tagesfördergruppen nur | |
Entwürfe. Da werde dieses Jahr nichts mehr entschieden, sagt Staatssekretär | |
Fritsch. Und dass sich der Förderbedarf nach der Leistungsfähigkeit richte, | |
sei ein großes Missverständnis. Förderziele könnten ja auch darin bestehen, | |
vorhandene Fähigkeiten zu erhalten. Den schwarzen Peter schiebt Fritsch den | |
Trägern zu: "Die Fachkräfte sind bei der Begutachtung häufig gar nicht in | |
der Lage gewesen, solche Ziele zu formulieren." | |
Berlins Behindertenbeauftragter Jürgen Schneider hat als jugendlicher | |
Praktikant noch gesehen, wie Schwerstmehrfachbehinderte in geschlossenen | |
Heimen vor sich hin vegetierten. Jetzt ist sein Ziel die Umsetzung der | |
UN-Behindertenrechtskonvention und damit vor allem die Verringerung von | |
Ausgrenzung. Über die Aufteilung Behinderter in Förderfähige und nicht | |
Förderfähige, in Werkstattfähige und nicht Werkstattfähige will sich | |
Schneider noch nicht äußern: "Das muss mit mir noch erörtert werden." Die | |
"völlig berechtigte Sorge der Eltern, dass ihre Angehörigen weniger | |
Betreuung erhalten", nehme er ernst. Es gebe aber noch Luft für | |
Umverteilung in und zwischen den Einrichtungen. In einem Punkt legt sich | |
Schneider aber schon fest: Eine Verschlechterung der Betreuung will er auch | |
im Einzelfall nicht hinnehmen: "Den Spielraum haben wir bei | |
Schwerstbehinderten nicht." | |
"Ich hatte immer das Vertrauen, dass ich für meine Tochter eine Umgebung | |
finde, die ihr gerecht wird", sagt Alina Sanders Mutter. Sie ist | |
pensionierte Lehrerin, eine 67-Jährige mit fester Stimme und klaren | |
Vorstellungen von Teilhabe. Um ihrer Tochter ein Leben in der Gesellschaft | |
zu ermöglichen, hat sie viel Zeit und Kraft geopfert. Nun stehen Eltern wie | |
sie vor einem neuen Kampf. "Sie haben Angst, dass Schwerstbehinderte aus | |
Kostengründen aus den Wohnheimen gedrängt werden und nur noch in | |
Pflegeheimen unterkommen", sagt Günter Jahn, Vorsitzender des Elternvereins | |
Lebenshilfe. Gegen die Herabstufung ihrer Angehörigen haben Alinas Mutter | |
und hunderte andere Eltern Widerspruch eingelegt.* Name geändert | |
13 May 2011 | |
## AUTOREN | |
Manuela Heim | |
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