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# taz.de -- Armut und teure Arzneien: Der Stempel von Frau Redmann
> Kreislaufbeschwerden und Übelkeit. Die Frührentnerin Petra Wollny kann
> sich ihre Medikamente nur dank der Dülmener Tafel und vieler Bürger
> leisten.
Bild: Ein prall gefüllter Apothekenschrank: Leider können sich einige Frühre…
Petra Wollny* sitzt am Tisch, ihre Hände wissen nicht so recht, wohin,
schließlich legt sie sie in den Schoß. Die 52-jährige stämmige Frau ist
blass, offenes, dünnes Haar fällt auf ihre Schulter. "Ich rede mit wenigen
Leuten darüber, dass ich hierherkomme, meine Nachbarn wissen es alle
nicht." Hier, das ist die Dülmener Tafel im westfälischen Münsterland, die
Bedürftige versorgt.
Doch Wollny ist nicht wegen der Lebensmittel gekommen. Sie legt ein Rezept
auf den Tisch, und Yvonne Redmann, die Gründerin der Tafel, zückt einen
Stempel. Eine schnelle Handbewegung, eine Unterschrift, Redman schiebt das
Rezept zurück. Jetzt muss Wollny in einer der zehn Apotheken am Ort nur
noch die Hälfte für die Medikamente bezahlen. Die andere Hälfte bekommen
die Apotheken von der Tafel erstattet.
Petra Wollnys Körper funktioniert nicht mehr so, wie er soll:
Schweißausbrüche, Unwohlsein, "vor allem im Sommer habe ich starke
Kreislaufbeschwerden", sagt sie. Ein Mittel gegen Verdauungsprobleme und
eines gegen Wechseljahrbeschwerden stehen auf Wollnys Rezept. Früher konnte
sie die Arzneimittel über die Krankenkasse abrechnen. "Das geht ja schon
lange nicht mehr, für mich ist das aber zu teuer."
## Aufgestockte Rente
Sie bekommt nur eine kleine Rente, die auf das Grundsicherungsniveau von
364 Euro aufgestockt wird, dazu Geld für die Miete. Ende der 1980er Jahre
hat eine schwere psychische Krankheit die Diplompädagogin aus der Bahn
geworfen, seitdem kann sie nicht mehr arbeiten. Halt gibt ihr jetzt eine
Tageseinrichtung für psychisch Kranke. Viermal in der Woche verbringt sie
dort ihre Zeit.
Die PatientInnen kochen und essen zusammen, machen Ausflüge, bekommen Hilfe
zur Bewältigung des Alltags. Das kostet 25 Euro im Monat. "Aber Mehrbedarf
ist nicht drin, sagt das Sozialamt." Also muss sie die 25 Euro von ihrer
Rente abknapsen. Wenig Geld, aber zumindest eine Krankenversicherung: Für
die meisten Hartz-IV- oder Grundsicherungsempfänger überweist das Jobcenter
Geld an die Krankenkasse, die medizinische Grundversorgung sollte also
abgedeckt sein.
## Kein Geld für Bagatellmedikamente
Aber inzwischen übernehmen die Kassen sogenannte Bagatellmedikamente, auch
OTC-Präparate genannt, nur noch für Kinder bis einschließlich 12 Jahre.
Mittel gegen Erkältungen, Durchfallerkrankungen, Allergien, Verbrennungen,
Schmerzen, Fieber, Herpes, Sportverletzungen - alles muss seither aus
eigener Tasche bezahlt werden.
"Wir können heute kaum noch etwas verschreiben. Für mich und viele meiner
Kollegen ist das sehr frustrierend." Holger Kruck ist einer von zwölf
niedergelassenen Allgemeinmedizinern in Dülmen. Von rund 1.000 Patienten,
die er im Quartal betreut, hätten 40 bis 50 kein Geld für Medikamente, hat
er beobachtet. "Es geht ja nicht nur darum, den Verlauf einer Erkältung
abzumildern oder Schmerzen zu lindern, sondern auch Superinfektionen zu
verhindern, wie beispielsweise eine Lungenentzündung."
Zurzeit kommen zu Kruck vor allem ältere Menschen mit Darmerkrankungen, die
kein Geld haben. "Wenn man das nicht behandelt, kann es zu
Herzrhythmusstörungen oder Austrocknungen kommen." Er versucht zu helfen,
so gut es geht, manchmal kann er kostenlose Muster vergeben, die die
Pharmakonzerne an die Ärzte verteilen. Aber damit sei dem Problem der
Mangelversorgung nicht beizukommen. "Die Firmen sind sehr, sehr knauserig
geworden." Er ist froh, dass es die Dülmener Tafel gibt.
## Eigene Liste
Tafelgründerin Redmann zeigt an diesem Morgen auf zwei Seiten bedrucktes
Papier, auf denen mittlerweile rund 50 "Bagatellpräparate" wie Paracetamol,
Grippostad, Sinupret, Fenistil oder Loperamid aufgelistet sind. Es ist die
Medikamentenliste der Dülmener Tafel, der Wegweiser für die Apotheken und
Ärzte des 47.000-Einwohner-Städtchens.
So wissen sie, welche Mittel die Tafel sponsert, können ein entsprechendes
Rezept ausstellen oder die Mittel billiger herausgeben. "Wir setzen uns
regelmäßig zusammen und schauen, ob wir noch etwas Neues aufnehmen", sagt
Redmann. "Brillen haben wir auch schon bezuschusst, selbst einfach Modelle
mit richtigen Gläsern kosten ja 200 Euro, dafür bekommt man nichts mehr von
den Kassen."
Als Yvonne Redmann 2005 die Dülmener Tafel gründete, hat sie an solche
Bedürfnisse noch gar nicht gedacht. Die 62-Jährige mit dem akkurat
geschnittenen, kurzen grauen Haaren, der braun-weißen Bluse und farblich
abgestimmten Strickjacke sah eines Tages, wie viel Essen nach einem Tag der
offenen Tür bei der Bundeswehr weggeworfen wurde. "Da habe ich gedacht, ich
muss was tun." Und weil sie eine Vernetzerin ist, viele Leute kennt, seit
Jahren Mitglied in der Dülmener SPD ist und mit der Bürgermeisterin
befreundet, fand sie rasch Mitstreiter.
## 90 Helfer
Um die 90 ehrenamtliche Helfer teilen sich heute ihre Zeit ein, um
Lebensmittel abzuholen, zu sortieren, auszugeben oder eben Rezepte
abzustempeln. Der rote flache Backsteinbau der Tafel, nur 300 Meter vom
Stadtzentrum entfernt, hat viermal in der Woche für jeweils zwei Stunden
geöffnet "Hier kann jeder hinkommen, der nachweisen kann, dass er Hartz IV
erhält, eine kleine Rente oder einen Niedriglohn. Im vergangenen Jahr haben
wir mit gut 5.000 Euro fast 400 Medikamentenkäufe gesponsert."
Die Arbeitslosigkeit liegt hier bei gerade einmal 4 Prozent. Dülmen ist ein
schmuckes Städten mit mittelalterlichem Stadttor. Im Zentrum reiht sich der
Herrenmodenausstatter Kuhmann, im Schaufenster Anzüge, Wollpullover und
Jacken, an einen Laden mit Kinderspielzeug, das meiste aus Holz, und ein
Geschäft für teure Küchenutensilien. Von 99-Cent-Läden ist weit und breit
nichts zu sehen, niemand bettelt auf der Straße.
"Man muss hinter die Fassaden gucken." Redmanns Auge ist mittlerweile
geschult. Sie weiß, dass die Armut sich häufig versteckt: hinter Kleidung
zum Beispiel, die noch aus besseren Zeiten stammt und sorgfältig gepflegt
wird.
"Ich bekomme zwangsläufig viel mit", sagt auch Barbara Schmitt in der
Markt-Apotheke im Dülmener Franz-Hospital. Der wuchtige Schrank aus altem,
dunklem Holz an der Wand hinter der Theke, darin alte Tiegel, Mörser und
Fläschchen, lässt die dunkelblonde Frau noch zierlicher erscheinen. Kunden
kommen herein und halten ein Schwätzchen.
Schmitt spricht schnell, lacht viel. Fragt man sie nach der Armut am Ort,
wird sie ernst: "Oft haben die Leute gefragt, was kostet das Medikament?
Und haben dann gesagt: ,Frau Schmitt, das kann ich mir nicht leisten, es
muss auch so gehen.' " Das passiert jetzt nicht mehr. Heute bekommt sie
drei-, viermal in der Woche ein von der Tafel abgestempeltes Rezept über
die Theke gereicht.
Richtig wütend ist Schmitt über die Krankenkassen. "Die haben sich aus der
medizinischen Grundversorgung gestohlen." Auch über die Gesundheitsämter
ärgert sie sich: "Die hatten früher auch noch ein bisschen Geld, um mal
auszuhelfen, beispielsweise wenn es in den Schulen und Kindergärten wieder
Läuse gibt. Heute geben die keinen Cent mehr, obwohl Läuse sogar eine
meldepflichtige Krankheit sind." Man müsse dann die ganze Familie
behandeln. "Da sind Sie schnell mit 50 Euro dabei."
## Die Sponsorin
Bei der Tafel duftet es mittlerweile nach frischem Kaffee, auf dem Tisch
stehen Plätzchen. Gabriele Herzogin von Croý ist zu Besuch gekommen. Die
82-Jährige mit den langen, im Nacken hochgesteckten weißen Haaren trägt
eine graue Fleecejacke. Herzogin will sie nicht genannt werden, hatte
Redmann zuvor geraten, aber ihr selbst rutscht der Titel ein paar Mal über
die Lippen. Von Croý ist ein Geschenk für die Tafel. Sie sponsert sie,
kommt regelmäßig vorbei, um Anteil zu nehmen.
Die von Croýs wohnen in Dülmen, besitzen dort Land, ein Sandsteinwerk und
rund 300 Wildpferde im Naturschutzgebiet Merfelder Bruch. Die Herzogin hört
zwar schon ein bisschen schlecht, reitet aber noch regelmäßig. Warum sie
hilft? "Wenn es einem gut geht, muss man das tun", sagt sie nur. Sie hat
selbst dunkle Zeiten erlebt, politische Gewalt, saß während der Nazizeit
ein Jahr im KZ, weil ihre Familie gegen Hitler war. "Heute halten die
Menschen weniger zusammen. Es ist wohl die Schattenseite des Wohlstands."
"Es herrscht für viele Stillstand, die Jugend hat keine Perspektive mehr",
stimmt ihr Redmann zu. Sie selbst empören vor allem die Niedriglöhne. "Es
ist beschämend, wenn man von seiner eigenen Hände Arbeit nicht mehr leben
kann." Aber bräuchte es dann statt Tafeln nicht eher Mindestlöhne, eine
andere Steuer- und Armutspolitik? "Sicher, aber ich mache mir wenig
Illusionen, dass das kommt, die Anzahl der Tafeln wird eher wachsen." Sie
kennt die Kritik an den Tafeln: Dass sie dem Staat die Arbeit abnehmen, die
Armut kaschieren. "Aber soll ich wegsehen und gar nicht helfen? Das wäre
zynisch."
*Name von der Redaktion geändert
19 May 2011
## AUTOREN
Eva Völpel
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