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# taz.de -- Der Supertanker "Haven", ein Tauchparadies: Die schlafende Königin
> Das Tankschiff "Haven" hatte rund 144 Millionen Liter Rohöl geladen, als
> es am 14. April 1991 im Golf von Genua in den Fluten versank. Heute ist
> es ein Eldorado für Sporttaucher aus aller Welt.
Bild: Ein besonderes Erlebnis: Wracktauchen im Mittelmeer.
GENUA taz | Vor 20 Jahren verursachte die "Haven" im Golf von Genua die
verheerendste Umweltkatastrophe im gesamten mediterranen Raum. Heute ist
der Supertanker das größte und meistbetauchte Wrack des Mittelmeers. Anhand
von Regierungsunterlagen, Gerichtsurteilen, Expertengesprächen,
historischen Filmaufnahmen und Augenzeugenberichten dokumentieren wir hier
den Untergang und seine Folgen - und tauchen ab bis in die Kommandozentrale
der Schiffsruine.
Tag 1, Donnerstag, den 11. April 1991, 12.38 Uhr: Kapitän Petros
Grigorakakis dreht seine obligatorische Runde. Überall herrscht
geschäftiges Treiben an Bord, es wird geschraubt, geschweißt, gepinselt,
geputzt. Friedlich liegt die "Haven" im Golf von Genua vor Anker. Die
wechselhafte Aprilsonne lugt ab und zu zwischen dunklen Wolken hindurch,
und von den Alpen weht eine frische Brise herüber. Wie angenehm mild es am
Verladehafen von Kharg Island im Iran noch war. Aber sein geliebtes
Mittelmeer reflektiert dieses launische Wechselspiel des Lichts so schön.
Der 47-Jährige ahnt in diesem Moment nicht, dass ihm nur noch wenige
Augenblicke bleiben.
"Pippo" kontrolliert eigenhändig unsere Brevets. Wer keinen Deep Diver in
der Tasche hat, darf nicht mit runter. Das verlangt der italienische
Gesetzgeber. In puncto Sicherheit versteht Guiseppe Di Piazza gar keinen
Spaß. Der ansonsten so humorvolle Chef des Haven Diving Centers in Arenzano
hat gute Gründe für seine Akribie. Selbst zwei Jahrzehnte nach dem
Untergang fordert die "Königin des Mittelmeeres" immer wieder ihren Tribut.
Fast jedes Jahr verunglücken leichtsinnige Taucher.
12.39 Uhr: Von einer Sekunde auf die andere ist nichts mehr so, wie es
einmal war. Im Inneren des Schiffs gerät etwas aus den Fugen, was nicht aus
den Fugen geraten darf. Es habe sich angehört, als ob monströse Stahlträger
mit unvorstellbarer Wucht gegeneinanderschlugen, werden später die
Überlebenden zu Protokoll geben. Was sich da im Verborgenen genau
abgespielt hat, konnte bis heute nicht genau geklärt werden. Auf jeden Fall
löst die Havarie eine Kettenreaktion aus, die durch Menschenhand nicht mehr
zu stoppen ist.
Als unser Skipper das 300 PS starke Schlauchboot auf Kurs trimmt, hängen
schwere Regenwolken tief über dem Wasser. Mit im Boot sitzen vier
italienische Taucher. Minuten später gleiten wir mit einer Rolle rückwärts
über die flache Bordwand, und uns umfängt eine fremde Welt. Wir fassen die
Führungsleine, die sich irgendwo im Dunklen verliert und uns direkt zur
Haven leiten wird. Meine Aufmerksamkeit fokussiert sich nun ausschließlich
auf das Unten.
12.40 Uhr: Plötzlich verpufft Gas in gelöschten Tanks. Andere - volle -
Öltanks bersten. Schon bricht ein Feuerinferno über das Schiff herein. Der
Himmel brennt, bis zu 400 Meter schießen die Flammen empor, und eine
tiefschwarze, hochtoxische Rauchwolke wächst rasant bis in die
Stratosphäre.
32 Männer der bunt gemischten 37-köpfigen Crew aus Griechen, Indern,
Filipinos und Sri Lanker können sich mit einem Sprung über Bord retten.
Sofort setzt die Hafenverwaltung alle verfügbaren Rettungskräfte in
Bewegung. Da gibt es nur ein Problem: Es sind kaum noch welche da. Gut 14
Stunden zuvor rammte die Fähre "Moby Prince" den Öltanker "Agip Abruzzo"
vor Livorno und fing dabei Feuer.
Unter uns zeichnet sich ein helles Rechteck gegen die Finsternis ab. Das
muss das Dach der sogenannten Kathedrale sein! So werden die Aufbauten
mitsamt den Decks bezeichnet. Schon erkenne ich Details. Verschiedene
kleine Algen und unzählige Muscheln haben die Außenhaut in Beschlag
genommen. Das Geländer entlang der Kante scheint hingegen noch immer den
Menschen Halt zu geben. Und das in 33 Metern Tiefe. Unsere
Aussichtsplattform bietet einen Panoramablick per excellence. Das finden
wohl auch Tausende kleine Fahnenbarsche, die im Schein unserer Lampen
knallrot leuchten. Erst jetzt beginne ich als "Neuer" zu begreifen, wie
unfassbar groß dieser Supertanker ist. Liegend erreicht das Wrack die Höhe
eines 18-stöckigen Hauses. Selbst die elegante "Titanic" wäre heute nur ein
Zwerg gegen den schmucklosen Riesen.
21.00 Uhr: Als sich die Nacht wie ein dunkles Tuch über das Mittelmeer
legt, erleuchtet eine brennende Fackel den Golf von Genua. Die Fackel heißt
"Haven" und lässt sich nicht mehr löschen. Alles bei diesem Unfall scheint
das Maß des Normalen und Vorstellbaren zu sprengen.
Der Mensch ist winzig und hilflos angesichts dieser entfesselten
Dimensionen, die er doch selbst kreiert hat. Sogar die Löschschiffe wirken
vor dieser Feuerwand wie putzige Requisiten aus der Welt von Barby und Ken.
Das Mittelmeer erlebt die größte Umweltkatastrophe seiner Geschichte.
Verliert die "Exxon Valdez" 1989 vor Alaska rund 42 Millionen Liter Rohöl,
sind es bei der "Haven" unvorstellbare 144 Millionen Liter.
Wir schweben über das Geländer und lassen uns auf die Plattform vor der
Kapitänsbrücke durchsacken. Die einstige Schaltzentrale liegt nun 36 Meter
unter Normalnull und ist fast vollkommen leer. Das gesamte Interieur hatte
sich damals buchstäblich in Rauch aufgelöst.
In der Mitte des Raums steht heute ein kleines Podest mit einer noch
kleineren Statue darauf. Es ist ein Replikat des Prager Jesuleins aus der
Santuario di Gesù Bambino in Arenzano.
Die italienischen Taucher gehen auf die Knie und beten für die Seelen der
fünf verstorbenen Seeleute, bevor sie sich bekreuzigen und in den düsteren
Katakomben aus Stahl entschwinden.
Schlagartig fühle ich die menschliche Dimension der heute fast vergessenen
Tragödie. Die "Haven" ist Unfallort, Krematorium und Grabstätte zugleich.
Von Ioannis Dafnis, Domingo Taller, Gregorio Celda, Serapion Tubonggan und
ihrem Kapitän Petros Grigorakakis fehlt bis heute jede Spur.
Tag 2, Freitag, 12. April: Zwar legen Bergungsteams endlich kilometerlange
Barrieren aus, doch immer wieder schwappt das Rohöl darüber hinweg. Wochen
später wird die Küste von Ligurien über Monaco bis hin zur Côte dAzur
verseucht sein, und engagierte Tierschützer werden monatelang um das
Überleben ölverschmierter Vogel kämpfen. Männer in weißen Vollschutzanzüg…
werden schwarze Ölklumpen vom Strand sammeln und ganze Felsbrocken
abseifen.
Gegen Mittag erschüttert eine weitere gewaltige Explosion das brennende
Schiff. Einlaufendes Wasser drückt die "Haven" mittschiffs unter und hebelt
dabei 95 Meter Vorschiff ab der Bruchstelle gespenstisch langsam in die
Höhe. Um 13.20 Uhr reißt der Bug vollständig ab und versinkt. Es sind die
Tanks, die die Schiffsruine über Wasser halten. Noch.
Wir tauchen über eine steile Stahltreppe ein Stockwerk tiefer. Sofort
umfängt mich Dämmerung in einem fensterlosen Gang. Kein Ort für
Klaustrophobiker. Der Maschinenkontrollraum liegt auf 39 Metern. Die kahlen
Wände wirken bedrückend auf mich, ich fühle mich befreit, als wir ihn durch
eine Fensteröffnung verlassen. Ins Offiziersdeck eine Etage tiefer schauen
wir nur von außen. Auf dem Boden liegt ein halb zusammengebrochener
Metalltisch. Er ist das neue Zuhause einer beindicken grünen Muräne.
Kampfbereit giftet sie uns an. An diesem Tisch möchte niemand Platz nehmen.
Die noch tieferen Etagen sind dann ausschließlich sogenannten TecDivern mit
speziellen Atemgasen vorbehalten.
Tag 3, Samstag, 13. April: Die Hitze ist so gewaltig, dass sie selbst
schwere Stahltrassen wie Kaugummi verformt. Gegen 10.35 Uhr ereignen sich
erneut mehrere schwere Explosionen. Ein Loch von der Größe eines
Einfamilienhauses klafft achtern in der Außenwand. Wieder bersten volle
Tanks, wieder haben die Flammen zig Millionen Liter neues Futter.
Die Bilanz wird rückblickend ernüchternd sein: Über 90.000 Tonnen Rohöl
verbrennen. Geschätzte 16.000 t verdampfen, 1.000 bis 1.500 t werden bis an
die französische Riviera gespült, lediglich 2.000 t können von der
Oberfläche abgefischt werden, rund 5.000 t treiben hinaus aufs offene Meer,
ungefähr 25.000 t Rohöl sinken, und 3.000 t gehen zusammen mit dem Wrack
unter. Der Meeresboden wird auf einer Fläche von 100 Quadratkilometern
kontaminiert, der Fischbestand geht rapide zurück.
Auf dem Weg nach achtern zum Schornstein erwischt uns eine heftige
Strömung. Zentimeter für Zentimeter kämpfen wir uns voran. Pause machen
geht nicht. Und trotzdem hat das seinen eigenen Reiz, passt irgendwie zu
diesem Tauchsport der Extraklasse. Der Schornstein musste unter Wasser
gekappt werden, um nicht auch noch andere große Pötte aufzuschlitzen.
Das war nur eine von vielen kostspieligen Aktionen. Über 500 Millionen Euro
hat dieser Untergang den italienischen Staat insgesamt gekostet. Dank
dieser Maßnahmen und der Selbstheilungskräfte der Natur hat sich die Umwelt
bis heute wieder vollständig regenerieren können. Entstanden ist dabei ganz
nebenbei ein Spielplatz der Superlative. Die "Haven" ist heute ein
Anziehungspunkt für Taucher.
Ach so, und die Eigner? Die Staatsanwaltschaft forderte für die Reeder
Lucas und Stelios Haji-Ioannou eine siebenjährige Haftstrafe wegen
fünffachen Totschlags sowie Schadensersatz, da sie ein absolut marodes
Schiff betrieben hätten. Die Milliardäre wurden in letzter Instanz
freigesprochen. Heute fliegt EasyJet-Gründer Stelios Haji-Ioannou mit
seiner Billig-Airline auch Taucher zur "Haven".
Tag 4, Sonntag, 14. April: Nach 70 Stunden Todeskampf bäumt sich das
brennende Schiff ein letztes Mal auf. 10.05 Uhr: Die "Haven" sinkt.
Für uns Taucher lebt die "Haven" hingegen weiter. Sie ist eine schlafende
Königin in einem Bett aus Sand.
19 May 2011
## AUTOREN
Marc Vorsatz
## TAGS
Reiseland Italien
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