# taz.de -- Serie Notizen zum Kleist-Jahr: Verschlungen | |
> Verliebt in eine Schutzlosigkeit, die zugleich eine Kraft ist. | |
Mein persönliches Verhältnis zu Kleist ist wohl eher ein Verhältnis mit | |
ihm. Ich bin eine eher sanftmütige, freundliche Person, und ich weiß | |
ehrlich gesagt nicht, weshalb dieser aufmüpfige, rachsüchtige, | |
misstrauische, liebessüchtige, unruhige, katastrophische Schriftsteller es | |
mir derartig angetan hat. Als ich ihn kennenlernte, war ich sechzehn, und | |
Christa Wolf erzählte bei einer Lesung von dem hellsichtigen, sich | |
entsetzlich ausgeschlossen fühlenden, hyperempfindlichen Kleist, und ich | |
liebte ihn sofort. Ich verschlang Kleist, und dann verschlang er mich. Ich | |
versuchte mich zu widersetzen, allein, es half nicht. Mein Verhältnis zu | |
ihm, oder mit ihm, dauert nun dreißig Jahre an. | |
Ich bewundere: diesen Dichter, der weit über den Tellerrand Europas | |
hinwegschaute, was die gerade erst ausgebrochene Französische Revolution in | |
den Kolonien (Haiti) auslöste. Sein Mitgefühl, das ihm die Augen für die | |
vertracktesten Figuren öffnete, durch deren Körper die Konflikte zwischen | |
Stolz und Liebe, Schwarz und Weiß, mittenhindurchrasten wie durch seine | |
Sätze, die ständig verspringen. Ich liebe: den kindlichen, wilden Mann, den | |
man auch in seinen Briefen findet, der alles durcheinanderbringt, sich von | |
Männlein wie Weiblein verwickeln lässt, der weint, an Koliken leidet und es | |
auch erzählt, der den Leuten auf den Schoß springt und seinen Freund Adam | |
Müller einmal fast in die Elbe geschubst hätte, so aufgeregt hat er sich. | |
Ich liebe: den ganz jungen Heinrich, der bei seiner Mutter auf dem Schoß | |
sitzt, die ihm das Buchstabieren beibringt, und der nach jeder Geschichte | |
schreit: Mehr! Als er elf ist, stirbt sein Vater, man schickt ihn fort, | |
zwecks Erziehung nach Berlin - ein herzzerreißender Augenblick! Er liebt | |
seine Mama. Die stirbt, er ist fünfzehn, Kadett in Potsdam, beim verhassten | |
Militär. Er fängt an zu SCHREIBEN. Einen ellenlangen Brief, auf der Fahrt | |
zu ihrer Beerdigung, und er hört nicht mehr auf damit, mit diesem | |
SCHREIBEN, und als es nicht mehr gehen will, im Sommer 1811 etwa, da will | |
er auch nicht mehr SEIN. | |
Kleist gehörte immer den Männern. Sie sahen ihn in seinem - ähem - | |
Verhältnis zum Militär, zum Tod, zum Krieg. Mein Schlüssel wurde - nach | |
unseren ersten zwanzig Jahren, in denen mich der irre Dramenschreiber | |
fesselte, dessen Figuren liebestoll, nach absoluter Hingabe schreiend, | |
misstrauisch bis sonst wohin, alles verdrehten, verwechselten und wagten, | |
ebenso wie der chaotische Komödiendichter, Hypochonder, Verweigerer, | |
Übersensible - diese ungewöhnliche Liebe Kleists zu seiner Mutter. Mit | |
dieser Empfindung sah Kleist auf die ihn umgebende männliche Welt, | |
überkritisch, auch wenn er dazu gehören wollte, unfähig, sich ihren | |
Spielregeln zu stellen. Vielleicht erschloss ihm diese Liebe den Sinn für | |
ledige Mütter, uneheliche Kinder, untergeschobene Kinder, verworrene | |
Familienverhältnisse und außerordentliche Frauenfiguren - vielleicht sogar | |
die Männer, die er begehrte. "Wahrnehmen heißt, mit der Seele denken", | |
schreibt er; seine Schutzlosigkeit, die zugleich unerhörte Kraft ist, mit | |
der er alles aufnimmt, durch sich hindurchbefördert und in seine Sprache | |
schleudert - die liebe ich vielleicht am meisten. | |
## 2011 ist Kleist-Jahr. Am 21. November 1811 hat der Dichter sich | |
erschossen. Wir drucken, immer am 21. eines Monats, Notizen zu Leben und | |
Werk dieses seltsamsten deutschen Klassikers. - Die Autorin schrieb den | |
Roman "Wir sehn uns wieder in der Ewigkeit" über die letzte Nacht von | |
Henriette Vogel und Heinrich von Kleist (dtv). | |
20 May 2011 | |
## AUTOREN | |
Tanja Langer | |
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