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# taz.de -- Foto-Ausstellung zu Brasilia: Utopie aus einer Hand
> Die Künstler Lina Kim und Michael Wesely lassen mit langzeitbelichteten
> Fotos und Bildern das stadtarchitektonische Wunder Brasília in Kiel
> aufleben: als eine Utopie, zu der die Menschen fehlen.
Bild: Ist da jemand? Brasílias Aeroporto Internacional Presidente Juscelino Ku…
KIEL taz | Es ist schade, dass unser ehemaliger Schulleiter, Herr Voth, die
aktuelle Ausstellung "Archiv Utopia/ Das Brasília-Projekt von Lina Kim und
Michael Wesely" in der Kieler Kunsthalle nicht mehr wird sehen können. Er
dürfte nicht mehr leben, denn er war für uns schon damals ein älterer Mann,
als er gelegentlich in unserer Klasse Vertretungsstunden übernahm und mit
übereinander geschlagenen Beinen auf dem Lehrerpult saß, lange her. Sein
absolutes Lieblingsfach war - wie es man es damals nannte - Erdkunde. Es
musste uns nur gelingen, ihn weg von den deutschen Mittelgebirgen zu
locken, weg von den Haffs und Bodden entlang der Ostsee und durch
geschicktes Nachfragen in die weite Welt zu führen. Dann mussten wir nicht
mehr gelangweilt an die Decke schauen, sondern konnten ihm zuhören und ihm
folgen, und es wurde eine Stunde, die wie im Fluge verging. Draußen in der
Welt, da blühte Herr Voth auf, so wie er sich sein Jackett aufknöpfte, und
er eilte mit uns voller Freude durch Afrika, Asien, Südamerika.
Sein Lieblingsthema war die Stadt Brasília, die Hauptstadt von Brasilien.
Denn das sollten wir uns mal vorstellen: Da haben sich die Brasilianer
mitten im Urwald eine Stadt gebaut! Planten am Reißbrett wie die Stadt sein
soll, optimal, ohne all die Fehler, die sich einschleichen, wenn man hier
und dort ein Stückchen anbaut, anbauen muss, weil da schon was steht, eine
Kirche, eine Siedlung, eine aus dem Mittelalter stammende Stadtmauer, die
man ja nicht einfach abreißen könne, auch wenn sie dem Neuen im Wege ist.
Nein - alles wird neu, alles wird so gebaut, wie zuvor mit Ruhe und viel
Überlegung gedacht. Nur die Urwaldbäume müssen weg und ein paar Straßen
müssen her für die Baumaschinen, die Betonmischer, und eines Tages ist sie
da, die moderne, in wenigen Jahren geschaffene Stadt, in der alles klappt
und sich jeder wohlfühlt. Herr Voth war jedes Mal erneut begeistert, was
die Brasilianer da gemacht hätten.
Und so ist Herr Voth einfach mit uns anwesend, als wir im Erdgeschoss der
Kieler Kunsthalle stehen und einigermaßen sprachlos auf die großformatigen
Fotos von Lina Kim und Michael Wesely schauen, die schön gerahmt hinter
Glas auf uns gewartet haben. Schon das erste Bild, also Foto, ist ein
Hammer: Rote, aufgewühlte, hier und da planierte Erde erstreckt sich bis
zum Horizont, links im Hintergrund warten bereits die Baumaschinen, den
neuen Flughafen, den die Stadt mittlerweile braucht, anzulegen. Und weiter
geht es zu den zentralen Plätzen und Verkehrsachsen der Stadt, zur
Universität, zu den Ministerien, zum Nationalkongress und zum
Nationaltheater: Wuchtige, stringente Stadtpanoramen füllen die Räume und
zeigen uns das heutige Brasília (und das in Kiel, dieser zerbauten,
unübersichtlichen Stadt!).
Michael Wesely hat mit Langzeitbelichtungen von mehreren Stunden
gearbeitet. Das macht, das seine Bilder seltsam unwirklich leuchten, auch
weil die Sonne ihres Weges gegangen ist und eine lange, schimmernde Spur
auf dem Fotopapier hinterlassen hat; das macht auch, dass die Menschen, die
vor der überall in der Stadt aufgestellten Kamera gelaufen sein müssen,
nicht oder nur schemenhaft wie Geisterwesen zu sehen sind, zu kurz war
schließlich ihre Anwesenheit. Und was uns nun nachträglich auffällt ist,
dass auch in Herrn Voths Erzählungen sehr wenig von den Menschen die Rede
war, die dieses Brasília zu bevölkern hatten, als es dann fertig war.
Menschen, also Bewohner, Städter werden in dieser Ausstellung an anderer
Stelle zum Thema, denn Kim und Wesely haben es nicht bei einer
Dokumentation des jetzigen Zustandes Brasílias als stadtarchitektonisches
Wunder belassen (das übrigens längst zum Weltkulturerbe der Unesco erklärt
wurde). Sie sind vielmehr ihrerseits in die Archive Brasílias gestiegen und
haben geschaut, wie damals die Errichtung der Stadt dokumentiert und wie
darüber berichtet und auch geworben wurde.
Rund 100.000 Fotos haben sie gesichtet, 1.500 davon restauriert und
digitalisiert. Eine Auswahl von gut 300 Bildern hängt in den Seitenräumen
der Kunsthalle, unkommentiert, eins neben dem anderen: Gut gelaunte Männer
überreichen nahezu unbekleideten Ureinwohnern Pflanzen in Plastiktöpfen;
andere beugen sich mit ernsten Mienen über Stadtmodelle; Frauen in Kleidern
mit Blumenmustern flanieren durch die neu errichteten Straßen und lächeln
dazu. Bilder, die auf ihre Weise von der damaligen Vorstellung der Moderne
erzählen, als versprochen wurde, das ginge, einfach so aus sich heraus zu
handeln und allein einer Idee, einem Plan zu folgen und diesen eins zu eins
umzusetzen.
Daher ist es schade, dass Herr Voth nicht selbst schauen kann, was aus den
Versprechungen seiner Zeit geworden ist, so wie es uns interessiert, ob er
ihnen heute noch nachhängt, ob er sie relativiert oder ganz oder teilweise
über Bord geworfen hat. Aber vielleicht lebt er noch, 100-jährig, rüstig
und fit, wie alte Leute heute sein sollen, und es verschlägt ihn in den
nächsten Tagen oder Wochen nach Kiel. Es wäre ihm und der Ausstellung zu
wünschen.
24 May 2011
## AUTOREN
Frank Keil
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