# taz.de -- Grafikdesign im Jugendstil: Bilderflut an einer Zeitenwende | |
> Wenn die Kunst in den Alltag vordringt: Dem Siegeszug des Grafikdesigns | |
> um 1900 widmet sich eine gelungene Ausstellung im Hamburger Museum für | |
> Kunst und Gewerbe. | |
Bild: Jugendstil der unbekannten Art: Heinrich Leflers Illustration zum Anderse… | |
HAMBURG taz | Cacao und Champagner, Zigaretten und Zigarren, Seife und | |
Suppenwürfel, schöne Frauen und Löwen: Überall sind bunte Plakate zu sehen, | |
meist mit Werbung drauf. | |
Und selbst so abwegige Botschaften wie diese wollen betrachtet werden: "Die | |
Venus von Milo und Galopp-Creme PILO haben nichts miteinander gemein, sind | |
aber beide in ihrer Art vollkommen …". Im letzten Viertel des 19. | |
Jahrhunderts hat die Chromolithographie für eine Ausstattung des Alltags | |
mit Bildern gesorgt, wie sie vorher unvorstellbar war. | |
Diese immense Bildproduktion erschien manchen schon damals verwerflich: Vor | |
einer Oberflächlichkeit der Bilderflut wird in kulturkritischen Texten | |
nicht erst heutzutage gewarnt. | |
Nicht solche Parallelen allerdings sind es, die das Hamburger Museum für | |
Kunst und Gewerbe veranlasst haben zu dieser "Der Aufbruch des Bildes in | |
den Alltag" untertitelten Ausstellung mit Grafikdesign um 1900. Sie | |
verdankt sich vielmehr der erfreulichen Tatsache, dass die Aufarbeitung | |
einer der weltweit umfangreichsten Sammlungen zu diesem Thema nun | |
weitgehend fertiggestellt wortden ist. | |
Justus Brinckmann, Gründungsdirektors des Hauses, hatte bei der | |
Gebrauchsgrafik einen besonderen Schwerpunkt gesetzt. Von Plakaten bis zu | |
Visitenkarten umfasst die Hamburger Sammlung etwa 20.000 Blätter. Ein | |
Großteil wurde in den letzten drei Jahren mit Hilfe der Zeit-Stiftung | |
aufgearbeitet. Das in Gänze zu präsentieren ist unmöglich. | |
Aber die jetzt in vier Räumen gezeigte Auswahl von mehr als 350 Arbeiten | |
gibt von Zirkusreklame zu Sammelbildchen, von Ornamententwürfen zu | |
Buchillustrationen einen guten Eindruck. Die internationale Sammlung hat | |
regionale Bezüge: So gehörte die 1872 in Altona gegründete "Adolph | |
Friedländer Buchdruckerei und Lithogr. Kunstanstalt" um 1890 zu den größten | |
Plakatdruckereien der Welt. | |
Wie dynamisch man sich damals die Welt im Jahre 2000 vorstellte, zeigen | |
Sammelbildchen für Schokolade: ein "Reisehotel" auf Schienen, fliegende | |
Polizisten und ein Luftschiff der Linie "Berlin-Melbourne". Auch was es am | |
10. Juli 1891 im Restaurant de la Tour Eiffel gab, ist zu erfahren - die | |
Speisen wurden handschriftlich in einen Vordruck mit eilendem Kellner | |
eingefügt. | |
Sehr ungewöhnlich ist ein Theaterprogramm von Paul Signac für das Pariser | |
"Theatre libre": Es scheint, als ob der pointilistische Maler hier 1888 | |
ausdrücklich physikalische Farbtheorien demonstrieren wollte. Das dabei | |
genutzte Vierfarb-Verfahren ist jedenfalls eine Vereinfachung der | |
Drucktechnik, die ein nicht unwesentlicher Grund wurde für die wachsende | |
Verbreitung der Alltagsgrafik. | |
Der im dritten Ausstellungsraum so bezeichnete "elegante Jugendstil" ist am | |
ehesten das, was gemeinhin das Bild dieses linienbetonten, floralen Stils | |
prägt. Für wenige Jahre genoss er überregionale Beliebtheit: Von der | |
Pariser Metro bis zur Kachel im Mietshaus, vom Theaterplakat bis zur | |
individuellen Geschäftskarte folgte alles von Riga bis Barcelona dieser | |
Formensprache, die nicht zufällig am Ende der 1960er Jahre wiederentdeckt | |
wurde. | |
Kunsthistorisch als "Art Nouveau" oder "Modern Style" bezeichnet, prägte in | |
Deutschland das Münchner Lifestyle-Magazin Jugend den Namen. Nicht nur in | |
Paris wurde das von führenden Künstlern gestaltete Plakat zu einer | |
gefragten Kunstgattung - und das ist es wohl noch bis heute, beispielsweise | |
was die Bekanntheit der von Henri de Toulouse-Lautrec gestalteten | |
Lithographie des sozialkritischen Kabarett-Sängers Aristide Bruant mit | |
seinem locker geschwungen roten Schal angeht. | |
Einen lebensreformerischen, elitären englischen Sonderweg zeigen die | |
wunderbar dekadenten Buchgestaltungen von Aubrey Beardsley, das von Oscar | |
Wilde im Roman "Dorian Gray" zitierte "Yellow Book" und andere exklusive | |
Drucke im Umkreis der "Arts and Crafts"-Bewegung. | |
Ansonsten war es den Grafikkünstlern dieser Zeit gerade recht, ihre | |
Entwürfe ungezählt vervielfältigt zu sehen: "Ich war froh, dass ich mich | |
für eine Kunst engagierte, die für das Volk bestimmt war und nicht für den | |
geschlossenen Kreis der Salonbesucher …", sagte Alfons Mucha, weltberühmt | |
ob seiner sieben hochformatigen Plakate für die Schauspielerin Sarah | |
Bernhardt. | |
Schriften und grafische Erscheinung transportieren nicht nur Inhalte, sie | |
sind auch selbst Ausdruck der jeweiligen sozialen Ideale, seien es | |
bourgeoise Eleganz in Paris, konservativer Mittelalterbezug im deutschen | |
Reich oder künstlerische Sezession in Wien. | |
Viele der Künstler jener Zeit begreifen die Gestaltung von Schrift und | |
Ornament als wesentlichen Baustein der Gesellschaft, als Teil eines | |
Gesamtkunstwerks. Peter Behrens etwa gestaltete für die AEG nicht nur das, | |
was heute als "Corporate Identity" bezeichnet wird, von ihm ist in der | |
Ausstellung auch der Entwurf zum Schriftzug "Dem deutschen Volke" am | |
Berliner Reichstag zu sehen. Ebenso ist er als Architekt bekannt geworden, | |
ebenso wie der Designer Henry van de Velde. | |
Nach 1905 ziehen sich die Künstler aus der Grafikgestaltung zurück. | |
Professionelle, an einer Kunstgewerbeschule - wie sie einst auch im Haus | |
des Museums für Kunst und Gewerbe bestand - ausgebildete Grafiker | |
übernehmen das Feld. | |
In New York werden zeitgleich die ersten Werbeagenturen gegründet. | |
Wichtiger als allegorische Überhöhungen und ornamentale Schönheit werden | |
nun die Fotografie und eine am Produkt orientierte, neue Sachlichkeit. | |
Die kulturellen und politischen Umwälzungen um 1900 im Spiegel der | |
Gebrauchsgrafik zu studieren ist durchaus reizvoll. In der Ausstellung, | |
ohne den neuen Katalog-Folianten, sind die Erklärungen aber manchmal zu | |
knapp ausgefallen. Wer noch mehr Jugendstil sehen will, findet diesen | |
weiteren Schwerpunkt gleich in den anschließenden Räumen. | |
27 May 2011 | |
## AUTOREN | |
Hajo Schiff | |
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