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# taz.de -- Aus "Le Monde diplomatique": Tunesien bringt sich Demokratie bei
> Nach der Revolution bereitet sich das Land auf die Wahlen im Juli vor.
> Grundlage ist ein Wahlgesetz, das zu den demokratischsten der Welt
> gehört.
Bild: Für das Amt des Premierministers kehrte der 84-jährige Anwalt und Dissi…
Seit vier Monaten schwanken die Tunesier zwischen einer Fortsetzung der
Revolution und der schnellen Durchführung von Wahlen. Die einen drängen
darauf, die Strukturen des alten Regimes zu beseitigen und den
Autoritarismus, der seit der Unabhängigkeit 1956 die Politik Tunesiens
bestimmte, endgültig zu überwinden – sie finden den Wahltermin für eine
verfassunggebende Nationalversammlung am 24. Juli zu früh. Andere erwarten
die Wahlen mit Ungeduld, weil sie die gefährliche Unsicherheit des
Übergangs möglichst schnell beendet sehen wollen.
Dieser Zwiespalt erschwert die Zusammenarbeit zwischen den beiden einzigen
derzeit aktiven politischen Institutionen, der Übergangsregierung und der
neu gegründeten "Hohen Instanz für die Verwirklichung der Revolution, der
politischen Reform und des demokratischen Übergangs". Letztere besteht aus
zwölf Parteien, neunzehn Vereinen und Gewerkschaften und 72 "nationalen
Persönlichkeiten".(1)
Die Zahl der Komiteemitglieder – niemand weiß genau, von wem sie ausgewählt
wurden – stieg in nur drei Wochen (vom 14. März bis zum 7. April) von 71
auf 155. Sie tagen im Bardo, dem Sitz des früheren Senats, der ohne viel
Federlesens aufgelöst wurde. Eigentlich ist die Aufgabenteilung klar: Die
"Hohe Instanz" soll die politischen Reformen steuern, während der Regierung
die Aufgabe zukommt, die Ordnung zu wahren und trotz der katastrophalen
Wirtschaftslage die Versorgung des Landes sicherzustellen. Denn seit die
Touristen und Investoren wegbleiben und das reiche Nachbarland Libyen im
Krieg versinkt, spitzt sich die Situation mehr und mehr zu.
Das Komitee versucht nun aber fortwährend der Übergangsregierung ihre Rolle
als Legislative streitig zu machen. Die Regierung besteht aus weitgehend
unbekannten Technokraten, die mehrheitlich von Mohammed Ghannouchi ernannt
wurden, dem einstigen Ministerpräsidenten unter Präsident Ben Ali.
## Die "hohe Instanz"
Béji Caïd Essebsi, seit dem 27. Februar Nachfolger von Ghannouchi, ist das
einzige Schwergewicht im Kabinett. Die unerwartete Rückkehr des 84-Jährigen
in die Politik ist dem Vakuum geschuldet, das 23 Jahre Ben Ali hinterlassen
haben. Während dessen Herrschaft hatten ausschließlich die Jasager eine
Chance, politisch Karriere zu machen. Essebsi profitiert auch von seinen
guten Beziehungen zur einzigen landesweiten Institution, die die Revolution
halbwegs ungeschoren überstanden hat: dem Allgemeinen Tunesischen
Gewerkschaftsbund (UGTT). Der ist "seit seiner Gründung 1946 eine
einzigartige Organisation in der arabischen Welt. Er hat bei allen
historischen Ereignissen in Tunesien eine entscheidende Rolle gespielt",
betont der Wirtschaftsprofessor und UGTT-Berater Abdeljalil Bedoui.
1952 verteidigte der junge Anwalt Essebsi erfolgreich den damaligen
UGTT-Generalsekretär Ahmed Tlili, dem vor einem Kolonialgericht die
Todesstrafe drohte. So etwas schafft Bindungen. Und die sind umso
nützlicher, als der Gewerkschaftsverband als einzige Massenorganisation des
Landes (500 000 Mitglieder) neben der Anwaltskammer einer der beiden
Stützpfeiler der "Hohen Instanz" und des gesamten politischen Lebens in
Tunesien ist.
Das Land zählt 8 000 Anwälte und ebenso viele Referendare – das sind viel
zu viele für die Prozesse, die vor den 155 Gerichten des Landes ausgetragen
werden. Als natürliche Verbündete der jungen Besitzlosen von Sidi Bouzid
haben sie deren Verzweiflungsschrei aufgegriffen und ihm einen politischen
Gehalt verliehen, in dem sich die ganze Jugend wiederfand. Die vom alten
Regime schikanierten Anwälte wittern nun ihre Chance: Auf der Straße und im
Fernsehen kämpfen sie aktiv und mit einer solchen Wortgewalt, dass ihre
Gegner sie zuweilen als "Demagogen" beschimpfen.
An ihrer Spitze steht der dynamische und einflussreiche Abderrazak Kilani.
Er stammt aus einer großen Familie aus dem Süden des Landes und war der
Erste, der vom neuen Ministerpräsidenten Essebsi empfangen wurde. "Wir
müssen verhindern, dass wir wieder über den Tisch gezogen werden wie 1987
von Ben Ali", erklärt er uns in seinem Büro im Justizpalast von Tunis. "Wir
wollen die Wächter der Revolution sein und die Demokratie verteidigen,
keine politischen Mandate erringen."
Am 11. April, nur elf Tage später als geplant, hat sich die "Hohe Instanz"
auf eines der demokratischsten Wahlgesetze der Welt geeinigt: eine
unabhängige Wahlkommission, Geschlechterparität und allgemeines
Verhältniswahlrecht. Das Gesetz ist das Ergebnis eines Konsenses zwischen
den im Bardo vertretenen politischen Kräften – Islamisten, Sozialisten,
Zentralisten, Baathisten, Marxisten, Trotzkisten, Maoisten, arabischen
Unionisten –, die alle überzeugt sind, dass die künftige Verfassung nur
funktionieren kann, wenn sie ein Gemeinschaftswerk ist.
## Im roten Dreieck des Aufstands
Alle haben Zugeständnisse gemacht: Die Ennadha-Partei, die die Mehrheit der
Islamisten vertritt, stimmte für die Geschlechterparität, trotz großen
Drucks von Seiten der radikal-salafistischen Minderheit Ettahrir.
Ministerpräsident Essebsi wünschte sich eine Gliederung nach Wahlbezirken
nach dem Vorbild der Dritten Französischen Republik vor 1914. Über eine
solche Regelung wäre eine Mehrheit lokal gewählter Abgeordneter ins
Parlament gelangt. Schließlich akzeptierte er jedoch das Proporzwahlsystem,
das die kleinen Parteien bevorzugt – von denen es in Tunesien offiziell
bereits 51 gibt – und das die Bildung einer moderaten Mehrheitsregierung
unter Ausschluss der radikaleren Parteien unwahrscheinlich macht.
Doch in einem Punkt herrscht Uneinigkeit: Die einstigen Funktionäre der
aufgelösten Partei Ben Alis, des Rassemblement Constitutionnel Démocratique
(RCD), dürfen nicht für die verfassunggebende Versammlung kandidieren.
Allerdings steht nicht genau fest, wie weit dieses Verbot geht. Immerhin
ist die RCD aus der Néo-Destour hervorgegangen, die seit 1934 unter Führung
von Habib Bourguiba für die Unabhängigkeit Tunesiens kämpfte.
In dessen Heimatstadt Monastir gab es am 6. April 2011, dem elften
Jahrestag von Bourguibas Tod, größere Kundgebungen. Und der
Ministerpräsident, ein früherer Mitstreiter Bourguibas, schmückt sich bei
jedem öffentlichen Auftritt mit den Federn seines großen Mentors und
verspricht, "das Ansehens des Staats" wiederherzustellen.
Eines scheint bereits festzustehen: Die künftige Verfassung Tunesiens wird
nicht heimlich von einer durch die Staatsmacht ernannten Expertenkommission
geschrieben, wie in Ägypten, Marokko oder Algerien, sondern von einer
demokratisch gewählten verfassunggebenden Versammlung. Damit erfüllt sich
in Tunesien eine seit Generationen erhobene Forderung arabischer
Oppositioneller.
Professor Yadh Ben Achour, Präsident der "Hohen Instanz" und Architekt der
ersten Etappe der Umgestaltung nach der Revolution, macht sich keine
Illusionen: "Wir brauchen eine kulturelle Veränderung. Die Demokratie ist
eine Mentalität und besteht vor allem aus ungeschriebenen Prinzipien: die
Opposition zu respektieren, ihren Sieg hinzunehmen und den Machtwechsel
ebenso zu akzeptieren wie das Risiko, bei jeder Wahl geschlagen werden zu
können."
Zwei andere Versprechen der Revolution werden schwerer zu erfüllen sein:
Sie betreffen die Armutsunterschiede zwischen den Regionen und die
Arbeitslosigkeit – die beiden Hauptursachen für die Unzufriedenheit in der
Bevölkerung. "Das Wirtschaftsproblem ist das Problem der armen Regionen,
aber dort spürt man keine Veränderung!", empört sich Tahar Belkhodja, ein
ehemaliger Minister und Bourguiba-Anhänger.
## Entwicklungsprogramm für die Regionen
Den vierzehn ärmsten Regionen, die sich allesamt im Landesinnern befinden,
wurde eine erste Nothilfe von 200 Millionen Dinar (105 Millionen Euro)
zugewiesen. Am schlechtesten geht es den Menschen in Kasserine, Sidi Bouzid
und Gafsa, dem roten Dreieck des Aufstands. Auf der "dorsale tunisienne",
jener kahlen ockerfarbenen Bergkette, die das Land in der Mitte teilt,
würde Ministerpräsident Essebsi am liebsten schon vor den Wahlen spürbare
Ergebnisse erzielen. Noch vor dem 24. Juli will Essebsi ein ehrgeiziges
Entwicklungsprogramm für die Regionen "von Jendouba bis Medenin" lancieren.
Die Finanzierung steht zwar noch nicht, aber immerhin der Name:
Bouazizi-Plan, nach Mohammed Bouazizi, dem jungen Gemüseverkäufer von Sidi
Bouzid, der mit seiner Selbstverbrennung am 17. Dezember 2010 die
Revolution auslöste. Der Plan zielt auf eine bessere Anbindung der
westlichen Regionen, eine Anhebung des Bildungsniveaus, die Modernisierung
des Gesundheitssystems und eine bessere Vermarktung lokaler Produkte.
Das zweite Hauptproblem, die Arbeitslosigkeit, betrifft jedoch das ganze
Land: Tunesien hat 500.000 Arbeitslose, jeder vierte davon mit
Universitätsabschluss. Seit dem 1. Januar sind 20.000 Stellen den Umständen
der Revolution zum Opfer gefallen (Aussperrungen, Plünderungen, Zerstörung
von Fabriken, Vandalismus). 50.000 tunesische Arbeitskräfte sind aus Libyen
zurückgekommen, und im Juli werden weitere 70 000 Absolventen die
Hochschulen verlassen – insgesamt also 140.000 neue Arbeitssuchende in
sechs Monaten.
Doch die Regierung ist optimistisch: 60.000 neue Arbeitsplätze sollen
entstehen, zu gleichen Teilen in der Verwaltung, bei den Ordnungskräften
und im Privatsektor. Dass die Veröffentlichung der ersten
Prüfungsergebnisse für Lehramtsanwärter um einige Wochen verschoben wurde,
verdeutlicht, wie angespannt die Lage ist. Auf die 3.000 Plätze hatten sich
100.000 Kandidaten beworben – man befürchtete Aufruhr.
Während sich tausende junge Leute auf den gefährlichen Weg nach Lampedusa
machen, andere sich durch den Straßenverkauf von Schmuggelwaren über Wasser
halten und eine kleine Minderheit in die Kriminalität abrutscht, erlebt
Tunesien auf der anderen Seite neue Formen der gesellschaftlichen und
politischen Mobilisierung.
Immer öfter mietet man sich mit dreißig Leuten einen Autobus, um nach Tunis
zu fahren und direkt im Büro des Ministers Angelegenheiten zu regeln, die
seit Ewigkeiten im bürokratischen Apparat untergegangen waren. Ständige
Sit-ins an symbolträchtigen Orten, einer Autobahn, einem Bahngleis, einem
Verwaltungsgebäude oder neben einer Gaspipeline, gehören bereits zum
Alltag. Unfähige Chefs, Provinzverwalter oder Fabrikdirektoren müssen
neuerdings ihren Hut nehmen, und mehrere aufsässige Regionen auf der
Dorsale haben ihre unglücklichen, von Tunis entsandten Gouverneure schon
zwei- oder dreimal wieder fortgeschickt.
Die "Sansculotten der Dorsale", die sich in der Hauptstadt auf dem
Regierungsvorplatz in der Kasbah versammelt hatten, setzten Ende Januar die
Entlassung von acht RCD-Ministern durch. Ende Februar kamen sie in noch
größerer Zahl zurück und verjagten den damaligen Ministerpräsidenten
Ghannouchi. Wer mag ihr nächstes Ziel sein?
Fußnote:
(1) Dazu Frank Nordhausen und Thomas Schmid in ihrem demnächst
erscheinenden Buch: "Dieses Gremium befindet über Bestimmungen, die ein
Expertenrat ausarbeitet, um den Übergang bis zu den Wahlen und deren
Durchführung zu regeln. Werden diese von der 'Hohen Instanz' gutgeheißen,
so werden sie der Regierung vorgelegt und danach dem Präsidenten mit der
Aufforderung, ein entsprechendes Gesetzesdekret zu erlassen." (in: "Die
arabische Revolution. Demokratischer Aufbruch von Tunesien bis zum Golf",
Berlin (Ch. Links Verlag) 2011; erscheint Mitte Juni).
Aus dem Französischen von Claudia Steinitz
5 Jun 2011
## AUTOREN
Jean-Pierre Séréni
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