# taz.de -- Archäologie: Schauriges Moor | |
> Kinderleichen und Bohlenwege: Das Landesmuseum Natur und Mensch in | |
> Oldenburg leistet sich eine neue Sonderausstellung zum Moor. | |
Bild: In Dümmerlohausen wird 1939 ein Einbaum geborgen. | |
Da liegt er nun im Halbdunkel, schwimmend in einer trüben Flüssigkeit. Was | |
aussieht wie Kleidung, die sich in Fetzen aufzulösen scheint, ist | |
tatsächlich seine Haut. Gefunden wurde der Leichnam eines Jungen, sechs, | |
vielleicht sieben Jahre alt, im Juli 1922 von einem Torfstecher, bei | |
Kayhausen nahe Bad Zwischenahn. Über Umwege gelangte er ins Oldenburger | |
Landesmuseum, wurde in den folgenden Jahrzehnten immer wieder untersucht, | |
geröntgt, obduziert und begutachtet. | |
Öffentlich ausgestellt aber wird der "Junge von Kayhausen" jetzt zum ersten | |
Mal. Er ist eines der zentralen Exponate der neuen Sonderschau im heutigen | |
Landesmuseum Natur und Mensch. Der Titel: "O, schaurig ists, übers Moor zu | |
gehen?", nach einer Gedichtzeile aus Annette von Droste-Hülshoffs Gedicht | |
"Der Knabe im Moor". | |
Drei Gründe gibt es für die Sonderschau, mit der die Dauerausstellung | |
"Weder See noch Land. Moor - eine verlorene Landschaft" ergänzt und | |
aktualisiert werden soll: Das Museum selbst feiert in diesem Jahr sein | |
175-jähriges Bestehen. Zu feiern sind zudem 220 Jahre Moorarchäologie. Eine | |
etwas vage Konstruktion, schließlich weiß keiner genau, seit wann sich der | |
Mensch einigermaßen systematisch mit dem beschäftigt, was ins Moor | |
versunken und später wieder aufgetaucht war. | |
Fest steht immerhin: 1791 publizierte erstmals ein Oldenburger namens | |
Pitiscus einen fundierten schriftlichen Bericht über den Fund einer | |
Moorleiche - so dass dieses Jahr zumindest als der Beginn regionalen | |
Moorleichenforschung gelten könnte. Nicht zuletzt Grund Nummer drei: der | |
langjährige Direktor des Museums, Mamoun Fansa, wechselt in den Ruhestand | |
und so lässt sich das, was in den oberen Stockwerken des Hauses aufgestellt | |
wurde, als seine Abschiedsausstellung lesen. | |
Die Schau greift, natürlich, die Faszination auf, die Moorleichen seit je | |
her umweht: Wie sind die Menschen ins Moor geraten? Ist da einer spät | |
abends, in der Dunkelheit, vielleicht bei Nebel vom Wege abgekommen und für | |
immer versunken? Handelt es sich um ein Gewaltverbrechen, gar eine rituelle | |
Tötung? Kurz gefragt: Wie und warum kam die Moorleiche ins Moor? | |
Im Falle des Jungen von Kayhausen 1922 ist die interessante | |
Interpretationsgeschichte dokumentiert, denn lange hat die Forschung sich | |
mit den nachweisbaren Verletzungen beschäftigt: ein Stich in den Oberarm, | |
drei tödliche Stiche in den Hals. Besonders die Tatsache, dass die Hände | |
des Jungen auf den Rücken gefesselt waren, wurde immer wieder als Beleg für | |
die Vorstellung vom Wiedergänger angesehen: Demnach fürchtete der | |
vormoderne Mensch die Rückkehr der Toten, weshalb er sie gefesselt und mit | |
Gewichten beschwert beerdigte. | |
Verantwortlich für die aktuellen Untersuchungen an den Oldenburger | |
Moorleichen ist die Anthropologin Eileen Jopp vom Institut für | |
Gerichtsmedizin am Uniklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE). Sie hat besonders | |
die Tatsache beschäftigt, dass die Halsverletzungen durch ein Tuch | |
abgedeckt wurden, als der Junge etwa im dritten Jahrhundert vor Christus | |
ins Moor gelegt und gewissermaßen bestattet wurde. | |
Sie möchte sich aber eigentlich nicht zu weit aus dem Fenster lehnen und | |
verweist darauf, dass ihr Chef, der renommierte Gerichtsmediziner Klaus | |
Püschel, die eigentliche Autorität sei. Aber dann bietet sie doch eine | |
Interpretation an: "Es ist sehr wahrscheinlich, dass es sich um einen | |
tödlichen Fall von Kindesmissbrauch handelt; dass der Täter den Körper mit | |
dem Tuch so bedeckt hat, dass es aussah, als sei die Tat nicht geschehen - | |
etwas, was wir auch aus der heutigen Kriminologie kennen." | |
Das ist längst nicht alles, was die neue Ausstellung bietet. Neben neuen | |
Erkenntnisse aus der Einbaumforschung widmet sie sich besonders den | |
Moorwegen, die die Menschen von Beginn an anlegten, um das Moor sicher zu | |
durchqueren. Bestanden die ersten dieser Wege aus schlichten, dicht | |
aneinander gelegten Baumstämmen, wurden später mit Bronzeäxte gezimmerte | |
Bohlen zusammengefügt. Dabei zeigt sich ganz nebenbei: Es lohnt, sich von | |
der Vorstellung zu verabschieden, im Norden hätten die Menschen ein | |
finsteres Dasein gefristet, während in südlichen, wärmeren Gefilden Kultur | |
und Kunst erblühten. | |
"Lange hat man etwa gedacht, dass das Rad und der Wagen zuerst im | |
Zweistromland Mesopotamiens entwickelt und genutzt wurden und hier lange | |
unbekannt waren. Durch die Moorarchäologie, durch Funde von Rädern und | |
Achsen entlang der Moorwege aber wissen wir, dass unsere Vorfahren bereits | |
3.000 Jahre vor Christus ebenso Rad und Wagen benutzt haben", erklärt dazu | |
Mamoun Fansa. | |
Bleiben noch die seltsamen, flachen und an Menschengestalten erinnernden | |
Holzfiguren, die man links und rechts der Moorwege fand und die nun | |
gesäubert und gesichert in Vitrinen ruhen. Vielleicht Hinweise auf lokale, | |
auch germanische Schutzgötter, die man achtete, fürchtete und deren | |
Beistand man sich ersehnte? Mamoun Fansa schüttelt den Kopf: "Für mich sind | |
das nichts anderes als Verkehrszeichen!" | |
War denn auf den Moorwegen das Verkehrsaufkommen an Ochsenwagen so enorm, | |
dass es geregelt werden musste? Das vielleicht nicht. "Aber wir haben diese | |
Zeichen vorzugsweise an Stellen gefunden, wo die Bohlen oft ausgetauscht | |
wurden. Wo es also Senken gab, wo es sehr feucht war und wo die Gefahr | |
bestand, dass man einbrach", sagt der Direktor. | |
Nickt und dreht sich einmal um die eigene Achse, schaut zufrieden auf | |
Moorleichen, Einbäume und rekonstruierte Moorwege - und wünscht seinem noch | |
nicht bestimmten Nachfolger alles Gute sowie viele neue Erkenntnisse. Auf | |
eines aber legt er wirklich keinen Wert: dass sein Bild demnächst zu den | |
Bildern der anderen Museumsdirektoren gehängt wird, die die Geschicke des | |
Hauses durch die Jahrzehnte bestimmt haben. Er sei ja schließlich noch am | |
Leben. | |
8 Jun 2011 | |
## AUTOREN | |
Frank Keil | |
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