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# taz.de -- Kanadischer Wissenschaftler über Ai WeiWei: "In China kann alles h…
> Wo ist Ai Weiwei? Diese Frage ist leider immer noch aktuell. Was sagt das
> über Chinas Rechtssystem? Ein Gespräch mit Donald C. Clarke.
Bild: "Auch Chinas Recht ist nicht unendlich dehnbar": Ai-WeiWei-Graffiti.
taz: Herr Clarke, der chinesische Künstler Ai Weiwei wird seit über zwei
Monaten ohne Kontakt zu seinem Anwalt von der chinesischen Polizei
festgehalten. Die Pekinger Regierung erklärt, dies sei nach chinesischem
Gesetz rechtmäßig. Ist das richtig?
Donald C. Clarke: Das chinesische Gesetz ist relativ dehnbar, vor allem,
was Verdächtige in Kriminalfällen betrifft. Aber es ist nicht unendlich
elastisch. Im Fall von Ai Weiwei wäre ein Verfahren denkbar, das es
erlaubt, ihn so lange Zeit ohne Anklage festzuhalten. Es nennt sich
"überwachtes Wohnen".
Müsste er dann nicht in seinem eigenen Haus festgehalten werden?
Ja, deshalb passt diese Kategorie eigentlich nicht. Gemeint ist der eigene
Wohnsitz, der auch für andere Personen zugänglich ist, und nicht irgendein
"Gästehaus" der Polizei mit Gittern vor den Fenstern und einer Wache vor
der Tür. Es gibt sogar ein Dokument des Polizeiministeriums, das diese Art
missbräuchlicher Interpretation von "überwachtem Wohnen" verbietet.
China hat viele neue Gesetze, gut ausgebildete Anwälte und viele
Gerichtsprozesse. Zeigt das nicht, dass sich das Rechtssystem in den
vergangenen dreißig Jahren verbessert hat?
Gut ausgebildete Richter und gut formulierte Gesetze können helfen, besser
zu regieren. Das nützt in der Regel allen, auch gewöhnlichen Bürgern.
Deshalb kann man ganz sicher davon sprechen, dass sich die Situation
verbessert hat.
Kann man daraus folgern, dass China auf dem Weg zu einem Rechtssystem ist,
in dem die Politiker nicht mehr unbegrenzte Macht über die Bürger haben?
Diese Entwicklung sehe ich nicht. Wenn zum Beispiel der Ständige Ausschuss
des Politbüros …
… die neun mächtigsten Männer Chinas …
… entscheidet, dass jemand festgenommen wird, werden dann rechtliche
Maßstäbe für die tatsächliche Festnahme ein stärkeres Gewicht haben als vor
zwanzig Jahren? Ich kann das nicht erkennen. Das heißt nicht, dass sich in
Chinas Rechtssystem nichts Interessantes oder Wichtiges oder Wertvolles
tut. Es bedeutet nur, dass wir nicht jede Verbesserung als einen Schritt
hin zu einer Regierung sehen sollten, deren Macht begrenzt ist.
Nach Ansicht vieler Juristen ist Chinas Rechtssystem schon ziemlich gut,
ausgenommen heikle Fälle. Was macht einen Fall heikel? Gibt es eine Art
rote Linie?
Wenn man "heikel" als "politischer Einwirkung unterworfen" definiert, dann
gibt es keinen Unterschied zwischen heiklen und nicht heiklen Fällen im
chinesischen Recht selbst. Aus Erfahrung wissen wir aber, dass Aufrufe zum
Sturz der Kommunistischen Partei mit größter Sicherheit heikel sind,
Wirtschafts- oder Verkehrskonflikte weniger. Allerdings kann sich ein
gewöhnlicher Autounfall unter gewissen Umständen als heikel erweisen. Ein
gutes Beispiel dafür ist ein Fall, der als "Mein Vater ist Li Gang" bekannt
wurde.
Ein junger Mann überfuhr mit seinem Auto eine Frau und rief den Umstehenden
zu, man könne ihm nichts anhaben, weil sein Vater Li Gang ein hoher
örtlicher Funktionär sei.
Aus dem Autounfall wurde deshalb ein heikler Fall, weil sich der Zorn der
Öffentlichkeit über anmaßende Funktionäre und ihre Sprösslinge daran
entfachte. Die Regierung reagierte besorgt und ließ die Berichterstattung
in den Medien strikt kontrollieren. Ich wäre sehr erstaunt, wenn das Urteil
des Richters in dem Prozess ohne Einmischung von Außen zustande käme.
Sobald sich ein mächtiger Funktionär aus irgendeinem Grund für einen Fall
interessiert, gibt es immer Hebel, ihn zu beeinflussen.
In China wird häufig vom Aufbau eines Rechtssystems "chinesischer Prägung"
gesprochen, das der Kultur und den Traditionen Chinas entspricht und nicht
vom Westen kopiert ist. Was ist damit gemeint?
Jedes Rechtssystem in China kann - aktuell und in Zukunft - nichts anderes
sein als ein Rechtssystem chinesischer Prägung. Wer dies allerdings immer
wieder laut beschwört, will nur von anderen Dingen ablenken. Wie jedermann
weiß und auch niemand leugnet, sind wesentliche Elemente des gegenwärtigen
chinesischen Rechtssystems vom Westen und vor allem von Deutschland
inspiriert. Westlich ist die gesamte Idee eines Einparteiensystems, das
sich dem Marxismus verschreibt. Also offenkundig hat niemand in der
Regierung ein Problem mit westlichen Modellen an sich. Ebenso offenkundig
ist es, dass es nichts in China geben wird, was eine exakte Kopie
westlicher Vorbilder wäre.
Es ist also zu spät, westliche Vorbilder abzulehnen?
Kulturen ändern sich, und die chinesische Kultur ist da keine Ausnahme. Ich
halte die ganze Debatte darüber, ob etwas den chinesischen Traditionen
entspricht, für reine Zeitverschwendung, weil es am Ende doch nur darum
geht, ob man etwas mag oder nicht. Interessanterweise scheint die Regierung
die Haltung einzunehmen, dass man sagen kann, etwas entspricht der
Tradition, und das bedeutet dann, es ist gut. Das wirkt etwas seltsam
angesichts der vielen chinesischen Traditionen, die die Regierung sicher
nicht unterstützt: zum Beispiel das Binden der Füße der Frauen, die
Polygamie, den Tod durch langsames Zerstückeln oder die Sklaverei. Was
Regierungsfunktionäre meinen, wenn sie von einem Rechtssystem "chinesischer
Prägung" sprechen, ist meiner Ansicht nach nichts anderes als ein
Rechtssystem, wie sie es sich wünschen. Die chinesische Tradition dient nur
als Rechtfertigung nach außen.
Was bedeutet das alles für Ai Weiwei und die anderen, die immer noch
irgendwo festgehalten werden?
Bei der Entscheidung über ihr Schicksal werden rechtliche Normen wohl kaum
eine wichtige Rolle spielen. Ai Weiwei ist viel zu prominent, als dass sein
Fall anders als politisch gelöst werden könnte. Man müsste extrem naiv
sein, etwas anderes zu erwarten.
10 Jun 2011
## AUTOREN
Jutta Lietsch
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