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# taz.de -- Currywurstessen mit Autorin Rivka Galchen: Etwas Loser, etwas Frank…
> Auf eine Currywurst in Berlin-Kreuzberg mit der US-Schriftstellerin Rivka
> Galchen. "Jeder hat seine eigene Wahrnehmungsstörung", sagt sie.
Bild: Bei Curry 36 gibts in Berlin angeblich die beste Currywurst.
Rivka Galchen ist die perfekte Heldin. Nicht die glorifizierte Perfektion,
die im Cheerleaderteam der Highschool strahlt, sondern eher die Art
Charakter, die im Scienceclub auftrumpft, die cool, witzig, selbstironisch
ist und ein bisschen mehr von der Welt verstanden zu haben scheint als der
Durchschnitt. Die Mädchen wollen so sein wie sie, und die Jungs wollen mit
ihr zum Abschlussball gehen und nicht mit der Blondine, die sie im Arm
halten.
Nun ist das Leben, wohl wahr, kein Hollywoodfilm und Rivka Galchen keine
Schauspielerin, sondern Schriftstellerin. Doch der Vergleich beschreibt
eben nicht nur die 35-Jährige, sondern auch die Art, wie sie schreibt. Zum
Treffen am Mehringdamm in Kreuzberg - ihr Wunsch, sie möchte was von Berlin
sehen - kommt sie mit dem Taxi. Spät dran, Wannsee ist weit.
Dort ist Rivka Galchen in diesem Jahr an der American Academy als
Mary-Ellen-von-der-Heyden-Fiction-Fellow. Für fünf Monate lebt sie mit neun
weiteren Stipendiaten im Haus am See. Ganz schön einsam sei das, sagt
Galchen, die sonst in Brooklyn wohnt. Aber auch gut fürs Schreiben. Und das
Essen in der Academy sei großartig. Aber manchmal auch ein bisschen zu
wenig. Darauf eine Currywurst. Ohne Darm, aber mit Pommes.
Rivka Galchen steht bei Curry 36 am Tisch, dort gibt es angeblich die beste
Currywurst Berlins. Sagen die Reiseführer. Und die Westberliner. Galchen
trägt den Casual-New-York-Look, die dunklen Haare irgendwie
hochgeschlungen, Strähnen lockern sich, ein Hemdchen, Skinnyjeans, hohe
Haken, und erzählt, dass ihre Mutter gerade zu Besuch war und es kaum
fassen konnte, dass die Berliner im sechsten Stock ohne Fahrstuhl leben
können. Aber genau wie das Fahrradfahren halte das hier fit, meint Galchen
anerkennend.
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Sie ist sofort da: an diesem Ort, beim Gegenüber. Zur Begrüßung wurde
gleich umarmt, von der Currywurst geht es thematisch weiter über
Gentrifizierung ("Berlin-Mitte ist ein Museum") bis hin zu Genozid. Eines
der Themen, das in der American Academy beim Abendessen besprochen wird.
Andere sind die Weimarer Republik und die Geschichte des Völkerrechts. Denn
die meisten anderen Fellows sind Historiker. "Es ist wie in der Schule.
Großartig", sagt Rivka Galchen. Sie lerne so viel. Ungezwungen ist sie,
interessiert, mädchenhaft begeistert von so vielem und zugleich
tiefgründig; schwarz schattiert.
Rivka Galchen schreibt für die New York Times, Harpers Bazar und den New
Yorker, der sie im vergangenen Jahr in die "20 Under 40"-Liste junger
amerikanischer Schriftsteller wählte. Ihr erster Roman "Atmosphärische
Störungen" erschien 2008 in den USA und 2010 in Deutschland beim Rowohlt
Verlag - und die Kritiker waren ganz aufgeregt, dass da eine "junge
Autorin" über die Liebe schrieb - und das auch noch mit wahnsinnig viel
Wissenschaft drin.
Leo Liebenstein, der Icherzähler ihres Debüts, ist ein New Yorker
Psychiater Anfang 50, der eines Morgens aufwacht und sicher ist: Die Frau
in seiner Wohnung ist nicht mehr die, mit der er seit Jahren zusammenlebt.
Es ist ein Simulacrum, ein Double, eine Ersatz-Rema, auch wenn ihr Haar
nach Gras riecht wie das der echten Rema und der argentinische Akzent
stimmt. Mit seinem Patienten Harvey, der sich für einen Geheimagenten der
Royal Academy of Meteorology hält, macht Leo sich auf die Suche nach seiner
Frau. Die Realitäten verschwimmen, Leo verliert sich in meteorologischen
Phänomenen, die Galchen wunderbar mit Wahrheiten über die Liebe verknüpft,
was ihren Roman zu einem Buch darüber macht, wie Menschen und Gefühle sich
wandeln - oder verschwinden.
"Jeder hat seine eigene kleine Wahrnehmungsstörung", sagt die Autorin. Und
so wahr wie dieser Satz ist ihr Buch. Wahr, witzig, warmherzig. Sie sei
immer neidisch gewesen auf die Männer, die sich mit Computern auskennen,
nie über ihre Gefühle sprechen, die sehr logisch und vernünftig zu sein
glauben und das auch allen klarmachen können, aber dabei auch irgendwie
lächerlich wirken. Aus Neid und Rache zugleich habe sie dann Leo erfunden.
Eigentlich sollte es eine Protagonistin werden. "Aber irgendwie ging das
mit einer Frau nicht."
Das soll in ihrem zweiten Roman anders werden. An ihm schreibt sie nun in
der American Academy, bis zum Jahresende will sie fertig sein. Schräg und
sympathisch soll ihre Heldin werden. Ein bisschen Loser, ein bisschen
Frankenstein: Die Icherzählerin will Tote wieder zum Leben erwecken. Sie
hat wissenschaftlich keine Ahnung, aber sie denkt, sie sei auserwählt. "Ich
mag das an Männern: dass sie Helden sei wollen, auch wenn das gar nichts
bringt. Dass sie sich auf eine Sache so konzentrieren, die konsequent
verfolgen", sagt Rivka Galchen. Davon soll ihre Heldin etwas haben.
Rivka Galchen liebt Schauergeschichten, und sie ist fasziniert von
Verkündigungsszenen, Gemälden, die jenen Moment zeigen, in dem der Engel
Maria die frohe Botschaft überbringt, die für sie erst einmal ein Schock
ist: Du wirst die Mutter des Sohn Gottes sein. Dieses Berufenwerden habe
sie viel beschäftigt, erzählt Galchen beim Spaziergang rund um den
Chamissoplatz, also der Grund, sein Zuhause zu verlassen, alles aufzugeben
- was schmerzhaft und aufregend zugleich sein kann.
Apropos, ganz ähnlich wie hier, in der Arndtstraße, im längst bürgerlichen
Teil von Kreuzberg mit den schönen, verschnörkelten Fassaden, sehe es bei
ihr zu Hause in Brooklyn aus. In ihrem Viertel, das irgendwo zwischen
Kreuzberg und Prenzlauer Berg einzuordnen sei, was die Glätte der
Oberfläche anbelangt. Viele Leute in ihrem Alter wohnten dort, mit ihren
ein, zwei Jahre alten Kindern. Sie stünden auf der Kippe, sich zu
verändern. Der Stadtteil und die Menschen.
Geboren im kanadischen Toronto, wuchs Rivka Galchen in Oklahoma im
Mittleren Westen der USA auf. In einer sehr religiösen Gegend, noch heute
sammelt sie Schnappschüsse von den zum Teil absurden Texten auf den
Werbetafeln der presbyterianischen Kirchen. "Die gläubigen Familien meiner
Freunde hatten alle Antworten auf die Fragen: Was ist das Richtige? Wie
verbringe ich meine Zeit?", sagt Rivka Galchen. Die Sicherheit und
Zufriedenheit, die daraus resultierten, habe sie immer beneidet. Und
zugleich sei es ihr suspekt gewesen.
"Heute hat Wissenschaft die Kraft, die früher die Religion hatte."
Wissenschaft, das sei für sie wie eine neue Sprache, die ganz neue
Ausdrucksmöglichkeiten und Assoziationen eröffne, es sei eine Brücke, sagt
die Autorin. Eine, die auch zu ihrem Vater führt. Tzvi Gal-Chen war
Professor für Meteorologie, gemeinsam mit ihrer Mutter emigrierte er aus
Israel. Sie waren sich sehr nah, Vater und Tochter, Mutter und Sohn. 1994
starb ihr Vater. In "Atmosphärische Störungen" lässt sie ihn auferstehen.
Er hält quasi aus dem Off als Chefmeteorologe Leos Realitäten zusammen.
Im Café Meli Melo bestellt Rivka Galchen sich Kaffee schwarz und erzählt,
ihre Umgebung als Kind sei völlig künstlerfrei gewesen. Sie habe neun
Stunden am Tag ferngesehen, am liebsten "Threes Company", eine US-Serie
über einen Mann, der mit zwei Frauen in einer WG lebt und vorgibt, schwul
zu sein, damit der konservative Vermieter diese Dreierrunde akzeptiert.
Danach sei sie süchtig gewesen. Und sie habe viel gelernt, über
Handlungsstränge, Spannungsaufbau. Gelesen habe sie als Erstes Agatha
Christie. Daher die Liebe zu Krimi und Grusel. "Mich interessiert auch
Freud gleich viel mehr, wenn man ihn als Kriminalgeschichte liest."
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Studiert hat sie dann auch erst mal englische Literatur in Princeton, ihrer
Mutter zuliebe danach aber Psychologie an der Mount Sinai School of
Medicine. Ihre Mutter erzähle auch heute noch jedem, die Tochter sei
Ärztin. Die einzige Angst bei ihrem zweiten Buch sei die vor der
Wiederholung. Obwohl, großartige Autoren wie Thomas Bernhard hätten zigmal
das gleiche Buch geschrieben. Ihn liebt sie. Ebenso wie Robert Walser,
Augustinus, H. P. Lovecraft, Jorge Luis Borges und César Aira, E. T. A.
Hoffmann und Kafka, natürlich. "The Nature Theater of Oklahoma": diesen
Titel des letzen Kapitels aus der alten, in den USA noch gängigen Fassung
von Kafkas erstem Roman "Amerika" soll Galchens neues Buch tragen. Die
Namen fallen so wie die von Freunden oder Stars.
Für Rivka Galchen sind sie wohl beides. Wenn man sie fragt, wie sie
schreibt, erzählt sie von Benjamin Franklin, der sich mit Gewichten und
unbequemen Stühlen zu schlafen verbot, um völlig übermüdet zu arbeiten. Und
von Balzac, der dreißig Tassen Kaffee getrunken und dann masturbiert und
vor dem Höhepunkt abgebrochen habe, um dann höchst erregt zu schreiben. So
außerhalb des rationalen Denkens zu sein, das wäre hin und wieder gut. Aber
meistens lese sie tagelang nur Zeitungen und Magazine, um hinterher wieder
ein paar Tage konsequent zu schreiben. Im Moment schlafe sie bis kurz vor
zehn, renne dann zum Frühstück, schreibe bis zum Abendessen und telefoniere
danach bis drei Uhr nachts mit ihrer Familie in den USA.
Die Karl-May-Festspiele in Bad Segeberg will sie noch sehen und Wagners
"Ring", sie hätte gerne eine Krankenversicherung, mag Handarbeiten, bei
denen man nichts denken muss, und fragt sich, ob der Professor recht hatte,
der meinte: Die Engländer haben im 19. Jahrhundert das normale Leben
beschrieben, die Deutschen immer Helden in Ausnahmesituationen. Unschwer zu
erraten, was ihr besser gefällt. Es gibt zu wenige gute Bücher von Frauen
mit starken Heldinnen, sagt Rivka Galchen. Genau, denkt man und hofft, dass
die Protagonistin ihres neuen Buches ihr gehörig ähnelt.
10 Jun 2011
## AUTOREN
Daniela Zinser
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