# taz.de -- Für den Panter-Preis nominiert: Das Ende der Sprachlosigkeit | |
> Rosmarie Lüttich ist pensionierte Lehrerin und bringt Analphabeten Lesen | |
> und Schreiben bei. Sie sagt, sie wolle den Menschen damit ihre Würde | |
> wiedergeben. | |
Bild: Die Buchstabenlehrerin: Rosmarie Lüttich lehrt funktionalen Analphabeten… | |
Es sieht aus wie in einer Schule: Es gibt einen Computerraum mit Rechnern, | |
eine geräumige Werkstatt und Klassenzimmer mit einer Schreibtafel und | |
Sitzbänken. Von der Decke hängen Buchstaben herab - As und Hs und Cs aus | |
Styropor. In diesem Raum wird Schreiben und Lesen gelernt, doch die Schüler | |
sind keine Kinder, sondern Erwachsene zwischen 18 und 50 Jahren. Man nennt | |
sie funktionale Analphabeten, weil sie weder richtig lesen noch schreiben | |
können. | |
Rosmarie Lüttich bringt ihnen bei, was die allermeisten Menschen wie im | |
Vorübergehen lernen: Buchstaben und wie man sie zu Wörtern kombiniert. | |
Lüttich ist 70 Jahre alt, Mutter von vier Kindern und pensionierte Lehrerin | |
für Deutsch und Sozialkunde. Sie berichtet von Schülern, die am Anfang des | |
Kurses ängstlich, blass und eingeschüchtert in diesem Klassenzimmer saßen | |
und später "wie eine Rakete abgegangen" seien. "Das Allerwichtigste ist, | |
dass wir den Leuten ihre Würde wiedergeben", sagt Lüttich. | |
Ein großes Wort, aber am Schreiben und Lesen hängt so viel. Und wenn | |
Rosmarie Lüttich mit ansieht, wie ihre Schülerinnen und Schüler nach | |
wenigen Monaten eine selbstbewusste Stimme bekommen, aufrechter gehen und | |
sich über jeden noch so kleinen Fortschritt riesig freuen - dann ist das | |
Motivation und Lohn für ihre Tätigkeit. Seit neun Jahren arbeitet sie | |
ehrenamtlich für den Verein "Lesen und Schreiben" im Berliner Stadtteil | |
Neukölln. "Nach meiner Pensionierung hatte ich einfach keine Lust, mich auf | |
die faule Haut zu legen. Ich wollte mich sozial engagieren." Als sie auf | |
den Verein stieß, dachte sie: "Das ist es. Diesen Menschen kannst du mit | |
deiner Berufserfahrung noch helfen." | |
Rosmarie Lüttich ist eine zurückhaltende Person, die nicht gerne im | |
Mittelpunkt steht. Sie ist schlicht gekleidet, trägt eine patente | |
Kurzhaarfrisur und eine dezente Brille. Sie spricht viel lieber über ihre | |
Arbeit als über sich selbst. Sie erzählt, dass in Deutschland laut einer | |
Studie der Universität Hamburg 7,5 Millionen funktionale Analphabeten | |
leben. Allein für Berlin ergibt das eine Zahl von etwa 315.000 Menschen. | |
Die Ursachen für die Lese- und Rechtschreibschwächen ihrer Schüler sind | |
vielfältig. | |
Die meisten von ihnen sind in einem Umfeld aufgewachsen, das durch | |
finanzielle Unsicherheit, Vernachlässigung, Alkoholismus und | |
Gleichgültigkeit gegenüber Bildung geprägt gewesen ist. In der Schule | |
wurden sie von Lehrern und Mitschülern oft stigmatisiert. Immer wieder | |
bekamen sie Sätze wie "Das kannst du doch sowieso nicht" oder "Dafür bist | |
doch viel zu blöd" zu hören. "Eine unserer Hauptaufgaben ist es", sagt | |
Lüttich, "diese negativen Sätze aus den Köpfen unserer Schüler | |
herauszubekommen. Wir versuchen sie mit Respekt zu behandeln und mit viel | |
Geduld ihr Selbstwertgefühl zu stärken." | |
## "Als bildungsunfähig eingeschätzt" | |
Einer ihrer Schüler kommt vorbei, Rosmarie Lüttich sagt: "Dieser Mann wurde | |
als bildungsunfähig eingeschätzt. Jetzt kann er lesen und schreiben. Er ist | |
ein anderer Mensch geworden." Noch nie sei sie so gerne Lehrerin gewesen | |
wie in den vergangenen neun Jahren - mitzubekommen, wie das Zutrauen ihrer | |
Schüler in die eigenen Fähigkeiten wächst und wie manche am Ende der | |
Ausbildung Romane lesen, mache ihr einfach "richtig Spaß". | |
Für die Zukunft wünscht sich Lüttich, dass Analphabeten nicht voreilig als | |
"lernbehindert" und "dumm" etikettiert, sondern deren kreative Ressourcen | |
entwickelt werden. "Was mich richtig wütend macht, ist die Ignoranz | |
gegenüber dem Problem des Analphabetismus." Das Thema werde totgeschwiegen, | |
Bildungseinrichtungen seien unterfinanziert. "Aber diese Menschen müssen | |
doch unterstützt werden", sagt sie. | |
Dass sie es tut und ihren Schülerinnen und Schülern weit mehr hilft, als | |
ihnen allein Buchstaben beizubringen, steht in einem Brief, den eine ihrer | |
Schülerinnen geschrieben hat: "Rosmarie ist eine Erenamtliche die sich Zeit | |
und innergie, kraft und sich sorgt um uns. … unsere Rosmarie könnte ja auch | |
mit anderen Leuten Kaffe und Kuchen klatsch machen. Aber sie ist für uns | |
alle da für jeden einzelnen von uns. … Es gibt Leute die retten Katzen und | |
auch Menschen, aber eine Rosmarie wie wir sie haben gibt es nur ein mal." | |
Die Schülerin ist über 40 Jahre alt. Durch Rosmarie Lüttichs Hilfe hat sie | |
es geschafft, in einem Theaterstück mitzuspielen. Vor 70 Zuschauern hat sie | |
einen Text vorgelesen. Sie war aufgeregt und hätte nie gedacht, dass sie es | |
schafft. Aber sie hat es geschafft - "das war ein risen erfolg für uns und | |
unsere Rosmarie". | |
22 Jun 2011 | |
## AUTOREN | |
Alem Grabovac | |
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