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# taz.de -- Aus "Le Monde diplomatique": Syrische Parolen
> Was rufen eigentlich die Demonstranten, die auf den Straßen von Deraa und
> anderswo ihr Leben riskieren? Ein kleines arabisch-deutsches Wörterbuch
> der Revolte
Bild: "Jisr al-Shughour, das syrische Volk steht auf!"
"Ma fi khawf baad al-yaum!“ (Ab heute keine Angst mehr) riefen die Bewohner
von Deraa am 18. März. Während die Repressionen zunahmen, überwanden die
Demonstranten die Herrschaft der Angst. In mehreren Städten waren sie
bereit, bis zum Letzten zu gehen: "Gib nicht auf, o Banias, für die
Freiheit lohnt es sich zu sterben."
"Bi-Rouh bi-damm, nafdîk ya chahîd!“ (Mit unserer Seele, mit unserem Blut,
opfern wir uns für dich, o Märtyrer). Dieses Motiv wurde immer wieder
aufgegriffen, auch als direkte Solidaritätsadresse an die Stadt, in der
viele Einwohner getötet wurden: "Mit unserer Seele, mit unserem Blut,
opfern wir uns für dich, o Deraa."
"Rafa’tu-l-na ra’sna!“ (Ihr habt uns unseren Stolz zurückgegeben). So
wurden zu Beginn des Aufstands die Besucher aus Deraa abends im Kreise der
Familie oder unter Freunden oft begrüßt.
"Al-chaab al-suri ma byandhal!“ (Das syrische Volk lässt sich nicht
beleidigen). Nicht zuletzt geht es den Demonstranten um ihre Würde als
Menschen und Bürger. Seit 1963 befand sich das Land im Ausnahmezustand.
Deshalb ist Freiheit hier gleichbedeutend mit Demokratie, und zwar
konfessionsübergreifend: „Freiheit, Freiheit, für Muslime und Christen“,
heißt es seit dem 15. März auf jeder Demonstration. Ein propagandistischer
Slogan des Regimes wurde dementsprechend abgewandelt. Aus "Gott, Syrien,
Baschar und sonst nichts!" wurde "Gott, Syrien, die Freiheit und sonst
nichts!"
"Al-mawt wa lâ-l-madhalleh!" (Lieber tot als erniedrigt). Das Martyrium
wäscht alle Erniedrigungen ab und gibt dem Einzelnen seine Würde als Mensch
und Gläubigen zurück. In der syrischen Überlieferung gehört das Märtyrertum
zu den Tugenden, die den Nationalhelden und Heiligen zugeschrieben werden.
"Sunni wa kurdi wa ’alawiyya, badna wahdah wataniyyah!“ (Sunniten, Kurden
und Alawiten, wir wollen die nationale Einheit) oder "Nahna ma ’anna ikhwân
wa lâ aydî kharijiyya, nahna kullna suriyya, islam wa ’alawiyya, durziyya
wa masihiyya!“ (Wir sind weder [Muslim-]Brüder noch Agenten des Auslands.
Wir sind alle Syrer – Muslime und Alawiten, Drusen und Christen), schreiben
die Demonstranten auf ihre Spruchbänder in solchen Vierteln, in denen es
häufiger zu religiös motivierten Streitigkeiten kommt. Solche Slogans
richten sich außerdem gegen das Regime, das besonders unter Christen,
Alawiten und anderen Minderheiten die Angst schürt, dass der Aufstand in
Syrien von den Islamisten manipuliert sei.
"Al-chaab yourid isqat al-nizam!“ (Das Volk fordert den Sturz des Regimes).
So hieß es erst, nachdem der Präsident in Deraa auf Demonstranten schießen
ließ und danach auch noch die Kundgebungen in seiner mit Spannung
erwarteten ersten Rede an die Nation am 30. März verhöhnte.
## Aufhebung des Ausnahmezustands
Dabei hatten die Demonstranten zunächst nur politische Reformen und die
Aufhebung des Ausnahmezustands gefordert. Zu diesem Zeitpunkt hatte man
Baschar al-Assad noch eine gewisse Sympathie entgegengebracht, weil er als
Garant für Sicherheit und Stabilität geschätzt wurde. Außerdem fürchteten
viele Syrer einen langwierigen und blutigen Konflikt, wenn sie Vergleiche
mit dem Bürgerkrieg im Libanon (1975 bis 1990) und der aktuelle Situation
im Irak zogen.
"Zenga, zenga, dar, dar, badna nchîlak ya Bachâr!“ (Straße um Straße, Haus
um Haus werden wir uns von dir befreien, Baschar), skandierten die
Demonstranten schließlich im April auf den Straßen. Der Anfang des Spruchs,
"zenga, zenga, dar, dar“, nimmt ironisch Bezug auf einen Ausspruch des
libyschen Diktators Muammar al-Gaddafi, der vom Sender al-Dschasira
aufgegriffen wurde und sich seither in der ganzen arabischen Welt wie ein
Lauffeuer verbreitet hat.
Die zweite Rede des syrischen Präsidenten am 16. April kam zu spät für eine
Deeskalation. Zumal al-Assad weder auf die Forderung der Demonstranten
einging, den Artikel 8 aus der syrischen Verfassung zu streichen, der den
Führungsanspruch der Baath-Partei festschreibt, noch ein Wort über die
Freilassung der politischen Gefangenen verlor. Als am 21. April der
Ausnahmezustand aufgehoben wurde, änderte sich gar nichts. Nach wie vor
kommt es zu tausendfachen willkürlichen Verhaftungen, Folter, Morden und
dem Einsatz von Soldaten und Panzern gegen Demonstranten.
"Akalu al-bayda wa-l-ta’shira wa khalluna ’ala al-hasira!“ (Sie haben das
Ei und die Schale gegessen, und uns haben sie der Misere überlassen),
lautet ein anderer Slogan der Demonstranten, die mehrheitlich aus sozial
benachteiligten Schichten kommen. Sie protestieren gegen Korruption und
Klientelismus und fordern eine gerechte Verteilung von Ressourcen und
Arbeit. In Deraa und Latakia haben sie die Syriatel-Filialen angezündet.
Denn die Mobilfunkgesellschaft wird – wie der syrische Ableger der
libanesischen Byblos Bank, die Duty-free-Shops an den Grenzübergängen, zwei
Fluggesellschaften, viele Bauunternehmen und Hotels sowie zahlreiche
weitere Unternehmen – von Rami Makhlouf kontrolliert, dem Cousin des
Präsidenten.
"Sah al-nawm yâ Halab!“ (Frohes Erwachen, o Aleppo), riefen die
Demonstranten am 29. April in Hama. In der Nachbarstadt Aleppo, der
bevölkerungsreichsten Stadt Syriens, hatte man nämlich lange gezögert, sich
den Protesten anzuschließen. Einige hundert Studenten machten schließlich
den Anfang.
In Damaskus waren es hauptsächlich die Demonstranten aus den
benachteiligten Randbezirken, die die Ehre der Stadt retteten. Als sie am
15. und 16. März auf die Straße gingen, hofften sie, dass es danach zu
einer größeren Mobilisierung in der Hauptstadt, dem Machtzentrum des
Regimes, kommen würde. Dass der Aufstand im ländlichen Deraa und nicht in
den großen Städten begann, hat niemanden überrascht. Schon bei früheren
Aufständen, etwa bei der Revolte des syrischen Nordens gegen die
französischen Besatzer in den Jahren von 1919 bis 1921, war es in Aleppo
weitgehend ruhig geblieben, obwohl in der Stadt große Waffenvorräte aus der
osmanischen Zeit lagerten. Und während der zweiten großen Erhebung gegen
das französische Mandat (1925/26) herrschte in Damaskus Stille.
## Slogans und Losungen
All diese Slogans und Losungen verdeutlichen einen tiefen Bruch mit den
politischen Ideologien des Nahen Ostens im 20. Jahrhundert. Auffällig ist
der Rückgriff auf traditionelle Symbole und Praktiken: die Moschee als
Zufluchtsort für Verletzte und Verfolgte, die islamische Färbung vieler
Losungen ("Allahu akbar!") oder die Figur des Widerstandskämpfers als Held
und Märtyrer. Der syrische Aufstand stützt sich auf einen starken
Patriotismus, der ironischerweise an den staatlichen Schulen des
Baath-Regimes besonders kultiviert wurde.
"Al-jaych al-suri yâ jabbâr radduw ’an Der’â al-hisâr!“ (Syrische Arm…
du Allmächtige, beschütze Deraa vor der Umzingelung). Diesen Slogan hört
man bisher eher selten. Denn die syrische Armee hat wegen ihrer Rolle als
politisches Unterdrückungsinstrument das einst hohe Ansehen aus dem
antikolonialen Freiheitskampf schon lange eingebüßt. Früher gehörte die
Armee zur politischen Avantgarde des Landes. Heute könnte sie aus Mangel an
realistischen Alternativen paradoxerweise zur größten Hoffnung für die
syrische Revolte werden.
Aus dem Französischen von Jakob Horst
[1][Le Monde diplomatique] Nr. 9517 vom 10.6.2011
26 Jun 2011
## LINKS
[1] http://www.monde-diplomatique.de
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