# taz.de -- Debatte Wachstumskritik: Grüne Wendehälse | |
> Die Grünen haben Erfolg, weil sie sich und ihre früheren Ideale genial | |
> vermarkten. Das Ideal der konsequenten Wachstumskritik ist jedoch auf der | |
> Strecke geblieben. | |
Bild: Das waren andere Zeiten: Grünen-Politiker Schily (heute SPD), Beckmann, … | |
Es gibt mehrere Thesen, die den Erfolg der Grünen zu erklären versuchen. | |
Die These ihrer Neider lautet, sie verdankten ihre Erfolge vor allem der | |
Atomkatastrophe von Fukushima. | |
Die These der Grünen lautet: Unser Aufschwung, der nachweislich vor der | |
Katastrophe einsetzte, ist die Frucht eines 30-jährigen Eintretens für | |
Klimaschutz und ein neues Energiesystem ohne Atom. Das distanzierte | |
Publikum vermutet, dass beide Thesen zu addieren sind, denn die Katastrophe | |
und die 30-jährige Arbeit verstärken sich wechselseitig. | |
Hier soll eine vierte These obendrauf gesetzt werden: Die Grünen sind nur | |
deshalb so erfolgreich, weil sie unter ihren alten Überschriften ihre | |
Politik wendehalsig neu formuliert haben. Dafür ist ein Kompliment fällig, | |
denn die Grünen sind geniale "Vermarkter" ihrer selbst. Sie marschieren in | |
eine andere Richtung und gelten trotzdem als geradlinig, standhaft und | |
konsequent: Wahrlich eine Leistung. | |
## Ökonomisierung der Energiewende | |
Was macht die scheinbar standhaften Grünen zu politischen Wendehälsen? Das | |
hat zum einen mit der Ökonomisierung der Energiewende und des Klimaschutzes | |
zu tun. | |
Größere Teile der politischen und wirtschaftlichen Eliten haben in den | |
vergangenen zwei Jahrzehnten zwei wesentliche Dinge erkannt: Wenn wir | |
nichts tun gegen die drohende Klima-Katastrophe, dann wird der | |
wirtschaftliche Schaden unübersehbar sein. Ihre zweite Erkenntnis: Aus dem | |
Kampf gegen die drohende Klimakatastrophe und einer neuen Energiewirtschaft | |
entstehen riesige Wachstumsmärkte. Zugleich warfen die Grünen ihrerseits | |
nach und nach Ballast ab. Ursprünglich speiste sich ihre Kritik an | |
Atomenergie und Energieverbrauch aus einem grundsätzlichen Unmut über die | |
Politik des Wirtschaftswachstums und der Wirtschaftskonzentration: | |
Oligopole, Monopole, Großkonzerne bestimmen das Geschehen, dezentrales | |
Kreislaufwirtschaften ist ohne Chance. | |
## Vordenker der Öko-Bewegung | |
Es war ja nicht so, dass die Grünen allein auf dieses Thema gekommen wären. | |
Schon Bundespräsident Gustav Heinemann fragte 1972 in einer Rede: "Haben | |
wir … nicht viel zu lange manche Kosten unseres Wohlstandes in den | |
Industrieländern auf die Umwelt abgewälzt, in der wir nun zu ersticken | |
drohen?" Und 1973 fragte Hans Matthöfer, langjähriger führender | |
SPD-Politiker: Wie kann eine Wirtschaft wachsen, "ohne die Umweltbelastung | |
zu erhöhen"? Der Autoindustrie wollte er als Forschungsminister Ende der | |
siebziger Jahre zehn Milliarden Mark in die Hand drücken, wenn sie dafür | |
ein umweltfreundliches Langzeitauto entwickelte - aber sie wollte nicht. | |
In den achtziger Jahren fanden etwa Erhard Eppler und Oskar Lafontaine nach | |
mühseligen Debatten in der SPD und mit den Gewerkschaften unter der | |
Überschrift "sozial-ökologische Modernisierung der Industriegesellschaft" | |
zu einer Position, die - gemessen an dem, was heute an Ideen auf dem | |
politischen Markt angeboten wird - die modernste, die beste und die | |
kapitalismuskritischste ist. Der ökologische Umbau der | |
Industriegesellschaft sei zur Frage des Überlebens geworden, hieß es da. | |
Und: Wirtschaftlich ist nichts vernünftig, was ökologisch unvernünftig ist. | |
Nicht jedes Wachstum ist Fortschritt. Reparaturen am Kapitalismus genügen | |
nicht. Eine neue Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft ist nötig. | |
## Goldgrube für Investoren | |
Richtig ist: Was bei den anderen Parteien und Akteuren eine Rolle unter | |
vielen spielte, spielte bei den Grünen die zentrale Rolle. Die beiden | |
Aspekte Wachstumskritik und dezentrales anderes Wirtschaften waren einst | |
bei ihnen so bestimmend, wie sie heute vergessen sind. Was als Programm für | |
Naturschützer begann, mündet heute in eine gigantische | |
Modernisierungsoffensive für Industrien und Wirtschaftsgesellschaften - | |
buchstäblich eine Goldgrube an Investitionen, Innovationen und | |
Renditemöglichkeiten. | |
Dezentralisierung, also die Demokratisierung der Energiewirtschaft, wird | |
zwar noch gefordert, aber nur noch leise und am Rande. Vielmehr preisen die | |
Grünen ihre neue Energiepolitik als riesiges Innovations-, Modernisierungs- | |
und Wachstumsprogramm der deutschen Wirtschaft an, als säßen sie mit Peter | |
Löscher an der Spitze von Siemens. Es geht ihnen, wie allen anderen, nicht | |
um weniger, sondern um mehr Wachstum: Aus Wachstumkritikern wurden | |
Wachstumstreiber. Sie befördern das wahnsinnige System des Wachstums und | |
bremsen nicht - immer schneller strampeln und wachsen, damit das System | |
nicht zu kippen droht wie ein langsamer werdendes Fahrrad. | |
## Absurder Wachstumszwang | |
Die Grünen schließen sich also endgültig jenem unerbittlichen | |
Steigerungsprinzip an, das die Moderne als "totale Mobilmachung" (Paul | |
Virilo) erscheinen lässt. Schon lange begründet in den führenden | |
Industrienationen, so argumentieren Jenaer Soziologen um Klaus Dörre, | |
niemand mehr die Produktion von Produkten mit der Deckung von konkretem | |
materiellen Bedarf, sondern wahlweise nur noch mit der Schaffung von | |
Arbeitsplätzen oder der Erzielung von Rendite. | |
Erst diese neue Politik unter der vertrauten alten Überschrift lässt die | |
Grünen reüssieren. Grüne, die sich treu geblieben wären und an einer Kritik | |
des immer absurderen Wirtschaftswachstums in den Industrieländern | |
festgehalten hätten und für ein System des dezentralen Wirtschaftens | |
fechten würden, wären wohl kaum zum Liebling so vieler Wähler aus den | |
wohlhabenden Mittelschichten, von so vielen Medien und deshalb auch von | |
Angela Merkel geworden. | |
Nur wegen ihrer politischen Wende haben sie nun den Wind im Rücken. Sie | |
sind in der Mitte dieser Wirtschaftsgesellschaft angekommen und haben noch | |
bessere Chancen, als nur die geistig und kulturell peinlich gewordene FDP | |
auf Dauer abzulösen. Es sei ihnen gegönnt. Aber nur unter einer Bedingung: | |
Sie sollten nicht weiterhin heucheln, sie seien ihrer Politik seit 30 | |
Jahren treu geblieben. | |
Da aber auch die Linkspartei nicht die Rolle der Wachstumskritiker von den | |
Grünen übernehmen wird, haben wir es heute mit einem Parteiensystem zu tun, | |
das zwar numerisch zahlreicher, aber bezüglich der Haltungen, die von und | |
in ihm vertreten werden, einfältiger ist als das in den achtziger Jahren. | |
28 Jun 2011 | |
## AUTOREN | |
Wolfgang Storz | |
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