# taz.de -- Kolumne Unbeliebt: Tempo ohne Limit | |
> Seiner Schnelligkeit verdankt der Grüne Boris Palmer Erfolge. Aber | |
> irgendwann ist er zu schnell geworden. So produziert er bisweilen Mist. | |
Der Grüne Boris Palmer liebt die Geschwindigkeit. Er hat Mathematik | |
studiert, da rechnet er schneller als andere. Sein Vater nahm ihn als | |
Jungen in unzählige Wahlkämpfe mit, deshalb kann er intuitiv durch | |
Rededuelle preschen. Er kam auch schneller zum Regieren als andere Grüne, | |
denn mit 34 Jahren war er schon Oberbürgermeister von Tübingen. | |
Als ich das erste Mal über ihn berichtet habe, sind wir durch den | |
Schlossgarten von Stuttgart gerannt. Er wollte einen Express kriegen, ich | |
keuchte ihm nach. Er war noch nicht OB und einen Bauzaun gab es auch noch | |
nicht im Schlossgarten. Er trug einen Korb Weintrauben von seiner Mutter | |
und hat sich im Laufen kurz zu mir umgedreht und gelacht, es war ein guter | |
Moment, [1][Boris Palmer im Jahr 2006]. | |
Er hatte damals ein Ziel: es besser zu machen als sein Vater Helmut Palmer, | |
der Remstal-Rebell, der ewige Kandidat, der viele Menschen begeisterte, | |
aber nie in ein Amt gewählt wurde. Das hat er geschafft. Aber seither hat | |
er das Tempo nicht gedrosselt, im Gegenteil. | |
Wer spurtet, schüttet Glücksstoffe aus, egal ob es auf den Parteitag geht | |
oder mit dem Rad auf einen Berg. Palmer machte beides. Er glänzte in | |
Talkshows, wo sich Gäste dieses feine Höhegefühl mitnehmen; es belohnt sie | |
dafür, dass sie sich zerreißen zwischen Orten und Aufgaben. | |
Wir treffen uns am S-Bahnhof Friedrichstraße in Berlin. Starbucks. "35 | |
Minuten", sagt Palmer. Vor dem Tresen biegt sich eine Schlange. Wir kürzen | |
den Kaffee weg. Gleich muss er zum [2][Parteirat] in die Grünen-Zentrale. | |
Vor sechs Wochen verteilte er dort ein Thesenpapier. Über das er nicht | |
lange genug nachgedacht hat. Es ging darum, was der Erfolg für die Partei | |
bedeutet. Über Punkt vier steht: "Das grüne Wachstum erfordert eine | |
programmatische Veränderung." Selbst bei grünen Themen stehe vieles in | |
Frage, wenn das Wachstum gesichert werden sollte. "Das uneingeschränkte | |
Adoptionsrecht für homosexuelle Paare ist vorerst keine Forderung, mit der | |
sich 25 % der Deutschen gewinnen lassen." | |
Der Satz an sich ist schon ein ziemlicher Mist. Die 25 Prozent stimmen | |
nicht, deutlich mehr Deutsche haben in Umfragen nichts gegen ein | |
vollwertiges Adoptionsrecht von Schwulen und Lesben. Es ist auch Unfug zu | |
behaupten, dass irgendwer in Deutschland uneingeschränkt adoptieren dürfe. | |
Das Papier gelangte in die Medien. Der Oberbürgermeister, der 2007 vom | |
Tübinger CDU-Landrat verlangt hatte, dass die Homoehe auf dem Rathaus | |
geschlossen werden darf und nicht im Landratsamt stattfinden muss, stand | |
nun als schwulen- und lesbenfeindlich da. So unbeliebt kannte er sich | |
nicht. | |
Palmer schaut über den Starbucks-Tisch. Er habe die Risiken so eines | |
Papiers unterschätzt. Er sagt: "Ich habe nicht gewusst, dass es so wichtig | |
ist, mich in den Dreck zu ziehen." | |
Der Satz in dem Papier sei ein Beispiel für eine Position gewesen, die die | |
Grünen halten müssten. Mit gutem Willen kann man vielleicht aus dem Titel | |
des Papiers herleiten, dass es nicht nur Forderungen enthält: "Grünes | |
Wachstum - um jeden Preis?" | |
Aber er hat eine Grenze verletzt. Manche Fragen gehören nicht in | |
strategische Kalkulationen, das Eintreten für die Gleichstellung einer | |
Minderheit zählt dazu. Er hat sie zum Objekt von Rechenschiebereien | |
gemacht. | |
Er schaut mich an, als verstehe er das Argument. Aber er gibt nicht nach. | |
Ein ICE kann keine Spitzkehre. Er ist zu schnell. Boris Palmer im Jahr | |
2011. | |
1 Jul 2011 | |
## LINKS | |
[1] /1/archiv/archiv/ | |
[2] http://www.gruene.de/einzelansicht/artikel/parteirat.html | |
## AUTOREN | |
Georg Löwisch | |
## ARTIKEL ZUM THEMA |