# taz.de -- Eine Aphorismenexegese in sechs Teilen: Der Marshall ist die Message | |
> Egal ob man ihn versteht oder nicht - nie hörte sich Medientheorie so | |
> sexy an wie in den Worten von Marshall McLuhan. Heute wäre der kanadische | |
> Philosoph hundert Jahre alt geworden. | |
Bild: "Das Medium ist die Botschaft." Nicht die Inhalte der Medien lösen danac… | |
"Wir sind die Genitalien unserer Technologie. Wir existieren nur, um das | |
nächste Modell zu verbessern." | |
Schon wieder so ein Satz. Wie ein Werbeslogan, der für nichts anderes wirbt | |
als sich selbst. Natürlich hat der Mensch den Faustkeil ebenso "gemacht" | |
wie der Faustkeil den Menschen. Aber weder habe ich selbst, noch hat | |
irgendwer, den ich kenne, jemals einem technischen Artefakt auch nur den | |
leisesten Anhauch einer Verbesserung hinzugefügt. | |
Als ihre Nutzer sind wir zwangsläufig eingeflochten in die Matrix des | |
Machbaren. Welt ist uns Wille, Vorstellung und Werkzeug. Deshalb sind wir | |
eher die Kinder des Technischen, weniger die Organe zu seiner | |
Fortpflanzung. In seiner lustvollen Zuspitzung ist also auch dieser Satz | |
McLuhans blühender, also fruchtbarer und damit schöner Unsinn. Weil er wie | |
eine Elfenbeinkugel von Bande zu Bande über den grünen Filz der Logik | |
rollt, auf ihrem Weg andere Kugeln anstößt und dabei selbst nie zur Ruhe | |
endgültiger Erkenntnis kommt. | |
Immerhin rollt die Kugel, was uns, wie alles, was sich bewegt, fasziniert. | |
Vielleicht sind wir ja Brustwarzen, Kniekehlen oder andere erogene Zonen | |
der Technologie. Darauf kommt es nicht an. Es darf sogar bezweifelt werden, | |
dass McLuhan seinerzeit etwas nennenswert Neues prophezeit hat, das nicht | |
schon schwungvoll im Schwange gewesen wäre. Er sagte es nur unterhaltsamer, | |
poetischer und verrätselter als sein wissenschaftsbetrieblichen | |
Zeitgenossen. | |
Wenn McLuhan wirklich das Internet prognostiziert hat, dann hat auch | |
Demokrit das Atom vorausgeahnt und die Bhagavad Gita die Atombombe. McLuhan | |
ist so sehr Sechzigerjahre wie die Beatles, die Raumfahrt oder LSD. Seine | |
Eleganz macht ihn zur Heckflosse der akademischen Forschung seiner Zeit. | |
Wer unsere Welt heute verstehen will, der sollte McLuhan ruhig McLuhan sein | |
lassen - und besser Brian Eno hören. ARNO FRANK | |
"Wir leben unserem Denken immer weit voraus" | |
Auf YouTube kann man sich das Fernsehinterview ansehen, in dem Marshall | |
McLuhan 1965 diesen Satz gesagt hat. McLuhan vor Bücherwand, noch ganz | |
Gutenberg-Galaxis. Nach dem Satz folgt ein kurzes Lächeln, halb als wolle | |
er sich Applaus abholen für diese gelungene Sentenz, halb als wolle er sein | |
Gegenüber beruhigen: Das, was geschieht, ist zwar zu komplex und zu | |
schnell, um von uns ganz durchdacht und damit kontrolliert zu werden - aber | |
das ist schon okay so! | |
Wie so oft bei solchen allumfassenden Aussagen: Die wirklich interessante | |
Frage ist gar nicht mal, ob der Satz stimmt oder nicht, sondern was man mit | |
ihm anfangen kann. Und das ist eine Menge. Der Satz ist ein guter | |
Abwehrzauber gegen Leitartikelitis: Dass Intellektuelle das Vernünftige | |
erkennen und die Gesellschaft es dann nur noch umsetzen muss - dieses so | |
autoritäre wie unterkomplexe Avantgardemodell zerschellt an diesem Satz. | |
Und was kann man an seine Stelle setzen? Demut trifft es nicht ganz. Aber | |
eine Haltung der Neugier auf das, was wirklich geschieht, auf jeden Fall. | |
Auf dem Gebiet der menschlichen Beziehungen würde ich niemals auf die Idee | |
kommen, McLuhan als Experten heranzuziehen. Aber gerade da ist mir dieser | |
Satz zuletzt häufiger eingefallen. Wie viele Bücher uns weismachen wollen, | |
dass in Sachen Liebe gar nichts geht, weil die Freiheit alles | |
verkompliziert! Und wie viele Paare das lebenspraktisch gut hinkriegen! In | |
der Liebe leben wir unserem Denken wirklich weit voraus. Ich finde, man | |
sollte Marshall McLuhan immer auch mit einem Lächeln sehen. DIRK KNIPPHALS | |
"Größeres Interesse an der Wirkung als an der Bedeutung ist eine der | |
grundlegenden Veränderungen in unserem Zeitalter der Elektrizität" | |
Im Dezember 2009 - im Jahre 98 nach McLuhan - hat Google ein neues | |
Geschäftsziel realisiert: bei Suchanfragen erhalten wir die gefundenen | |
Informationen in einer auf uns persönlich zugeschneiderten Liste. | |
Dies bedeutet: Ein Atomkraftgegner bekommt andere Suchergebnisse als ein | |
Atomkraftbefürworter; ein US-amerikanischer Republikaner findet andere | |
Links als ein Demokrat. Das Primat der Wirkung konstruiert eine fatale | |
Verführung - wir erhalten vorrangig Informationen, die unser Weltbild | |
bestätigen und verstärken. | |
Googles magisch fix funktionierender PageRank Algorithm befehligt 500 | |
Millionen Variablen und 2 Milliarden Termini. Nun extrahiert Google | |
mithilfe von 57 weiteren Variablen unser persönliches Suchprofil. | |
Algorithmen haben keine ethischen Bedenken, sie kennen keine Verwandten - | |
außer ihrer Armee der mathematischen Funktionen. Alle Suchmaschinen klemmen | |
sich das gespeicherte Profil unseres Suchverhaltens unter den Arm, sausen | |
los und strukturieren die Ergebnisse gemäß unserem Interessenprofil. | |
Auf der Bedeutungsebene ist dies ein Skandal: Die Beute unserer | |
Suchergebnisse ist ein vorgekautes Menü unserer Lieblingsspeisen! GABY SOHL | |
"Genau dann, wenn alle Menschen damit beschäftigt sind, an sich und | |
aneinander herumzuschnüffeln, werden sie für die Vorgänge insgesamt | |
anästhesiert." | |
Ich war gestern im Fitnessstudio. Kurz zwischen Arbeit und Abendessen das | |
Hirn frei kriegen. Um dann offen zu sein für meine Verabredung. Eine tolle | |
Frau. Ja, mit ihr würde ich mich gerne befreunden. | |
Auf dem Weg zum Sport noch Arbeit im Kopf. Irgendwie traurig, dass das | |
Datenspähprogramm Elena an der Unfähigkeit des Überwachungsstaates stirbt. | |
Und eben nicht am wutbürgernden Protest. | |
Auch nachgedacht, ob wir mit den Rewe-Bildern angemessen umgegangen sind. | |
Ist ja schon n Ding. Da sammelt jemand Klebebilder und hinterher landet | |
seine Blutgruppe im Netz. Na ja, fast. Ich hab nur einmal Bilder gesammelt. | |
74. War so froh, als ich Gerd Müller hatte. Dem ist Elena wohl jetzt auch | |
egal. | |
Das dann aber noch nie gesehen: Eine Frau am Gerät für Beine, Po und Bauch | |
facebookt. Meine Trainingseinheit unterbrochen. Beobachtet, wie sie im | |
rhythmischen Schieben ein Foto macht von sich. Und zack, mit ihren Freunden | |
teilt. Ich könnte das nicht. Mein iPad kann auch gar keine Fotos. | |
Draußen ein wunderbar lauer Sommerberlinabend. Lange nicht so klar gefühlt, | |
wie gut das wirkliche Leben schmeckt. Und dabei vielleicht eine echte | |
Freundinnenschaft geboren. INES POHL | |
"Das Medium ist die Botschaft." | |
Uff! Die legendärste aller McLuhan-Zeilen. Rauf und runter rezipiert. Auch | |
nach fünfzig Jahren wird sie in medientheoretisch interessierten Kreisen | |
hinausposaunt, als wäre sie noch eine große Weisheit. Eine dieser "Wie | |
schon McLuhan sagte"-Formeln. | |
Wahrscheinlich ist es diese Zeile, derentwegen ich mich nie für McLuhan | |
interessiert habe. Nicht, dass ich sie für falsch hielte. Eher ist sie eine | |
jener Parolen, die so wahr sind, dass sie schon wieder zu einem Klischee | |
werden. Und sie ist ja, kategorisch verstanden, sowohl falsch als auch | |
wahr. Wahr ist, dass die Kanäle, die Medien, deren Eigenlogik, den | |
Sprechenden an sich anschließen. Die Botschaft macht etwas aus dem, der | |
spricht, er ist nicht Herr seiner Botschaft. Das Medium benutzt ihn, und | |
nicht er allein das Medium. The Media is the Message - ja, eh, wissen wir | |
schon, danke schön! | |
Und in ihrer besserwisserischen Version, verstanden als: "Das Medium ist | |
alles, die Botschaft nichts", ist die Zeile ja auch ein bisschen falsch. | |
Aber in gewissem Sinn richtet sie sich gegen ihren Urheber, so wie das | |
Frankenstein-Monster, das sich gegen seinen Erschaffer richtet. Denn steckt | |
in dem Formel-, Sloganhaften nicht auch ein performative Bestätigung des | |
Gesagten selbst? Von der Art: "Ich muss einen Einzeiler schaffen, den sich | |
alle Welt merkt." | |
Dann ist die Pointe alles, hinter der der Inhalt des Satzes längst | |
verschwunden ist. Was sie sachlich aussagt, wird schnell zum Dekor hinter | |
der Phrase. Steile These, heute etwas flach. Wobei es natürlich ihre | |
geniale Wahrheit ist, die sie zur Banalität macht. ROBERT MISIK | |
"Terror ist der Normalzustand jeder oralen Gesellschaft, weil in ihr zu | |
jeder Zeit jedes eine Wirkung auf alles ausübt." | |
Als Marshall McLuhan in den 1960ern das globale Dorf ausrief, wurde er von | |
den Hippies gründlich missverstanden. Sie dachten, das Global Village sei | |
was Schönes, Heimeliges und Freundliches. McLuhan wunderte das nicht. Er | |
nahm an, dass die Sehnsucht nach Ganzheit und Empathie ein "natürliches | |
Attribut der Elektrotechnik" sei. | |
Die "mit Lichtgeschwindigkeit" übertragenen Botschaften von Telefon, Radio, | |
TV und Computer lassen Zeit und Raum implodieren. Sie fordern von jedem und | |
jeder Einzelnen, sich an die neue globale Umwelt anzupassen, als sei sie | |
"seine kleine Heimatstadt". Wir kehren zur Stammesgesellschaft zurück mit | |
allen unangenehmen Tendenzen, die das Dorf als Lebensform so mit sich | |
bringt. | |
Wir müssen partizipieren, ob wir wollen oder nicht. Gerüchte rasen in | |
Lichtgeschwindigkeit um den Erdball. Die Paranoia regiert. Das lesende | |
Individuum der europäischen Moderne wird abgelöst durch einen Zustand | |
kollektiver Identität. Als Moderner bezeichnen darf sich also, wer diesen | |
Text bis hierher gelesen hat. Allein ist er oder sie trotzdem nicht, wenn | |
es nach McLuhan geht: "Im elektrischen Zeitalter tragen wir die ganze | |
Menschheit als unsere eigene Haut." ULRICH GUTMAIR | |
21 Jul 2011 | |
## ARTIKEL ZUM THEMA |