Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Debatte Neoliberalismus: Abschied vom Fortschritt
> Der Neoliberalismus ist die letzte große Erzählung, die gescheitert ist.
> Nun muss es darum gehen, das verlorene Gemeingut zurückzugewinnen.
Bild: Auch Linke können nie genug Geld haben.
Der französische Philosoph Jean-François Lyotard machte aus der "Erzählung"
einen philosophischen Begriff. In seinem Buch "Das postmoderne Wissen"
(1979) verkündete er das Ende der großen metaphysischen Erzählungen, die
bis dahin den Westen geprägt hatten: Aufklärung, Idealismus, Marxismus -
angesichts der Individualisierungs- und Atomisierungsprozesse der
Gesellschaft schienen diese alles vereinnahmenden Interpretationen der Welt
erledigt.
Ich glaube, dass das, was Lyotard postmodern nannte, einfach die
vollständige Entfaltung der Moderne darstellt, wie es schon Marx, Weber und
Nietzsche vorhergesehen haben. Die Menschen müssen nun ohne jede Illusion
auf ihr Leben blicken: Gott ist tot, die Welt ist entzaubert.
Am schlimmsten beschädigt von allen großen Erzählungen ist die vom
Fortschritt - und dabei war sie die wohl ausdauerndste. Wie stark war
dieser Glaube an eine Menschheit auf dem Weg zu den Gefilden der
allumfassenden Befreiung von den Zwängen der Natur! Doch nach den
Schlachthäusern des Ersten und Zweiten Weltkriegs, nach dem Holocaust
schien dieser Mythos erledigt. Doch es kam anders.
## Was ist der Sinn der Geschichte?
In der Nachkriegszeit kam eine neue Erzählung auf, die von der Entwicklung.
Die Wirtschaft wuchs noch, die Verbesserung des Lebensstandard einer
wachsenden Zahl von Bürgern hielt die Fortschrittserzählung aus dem 19.
Jahrhundert in neuem Gewand am Leben. Die Arbeiterbewegung und die Parteien
der Linken verinnerlichten sie völlig.
Der italienische KP-Führer Palmiro Togliatti brachte dieses Credo auf die
Formel: "Wir kommen von weither, und weit werden wir gehen." Vielleicht ist
diese Projektion der Hoffnung auf die Zukunft, dieser Glaube an ein
besseres Leben auch eine anthropologische Konstante: Die Geschichte soll
einen Sinn ergeben. Auf dieser Grundlage hat die moderne Politik ihre
Karten ausgespielt, ob von konservativer oder linker Seite.
Seit etwa 30 Jahren jedoch haben die bürgerlichen Eliten eine breit
gefächerte kapitalistische Gegenoffensive eingeleitet - die neoliberale
Erzählung. Im Mittelpunkt dieses Romans einer Wiedergeburt des Fortschritts
steht die Freiheit der Individuen, die Ausschaltung der Bürokratie, der
freie Markt als einzige Regelungsinstanz der zwischenmenschlichen
Angelegenheiten. Diese neue Heiligenlegende hat eine unglaubliche
Faszination ausgeübt. Auch die traditionellen Parteien der Linken konnten
sich ihr nicht entziehen. Liberalisierung, Privatisierung, Wettbewerb,
Flexibilität befielen die gute, alte Sozialdemokratie wie Parasiten und
saugten sie aus.
## Verarmung statt Fortschritt
Aber auch das ist vorbei. Denn was haben uns die Apologeten dieser jüngsten
kapitalistischen Erzählung noch zu bieten? Weitere Privatisierungen, totale
Steuerentlastung? Was hat das wirklich mit unserer Sehnsucht nach einem
Leben in Würde zu tun? Nach drei Jahrzehnten neoliberaler Propaganda ist
das fantastische Resultat, dass die nachfolgenden Generationen schlechter
leben werden als wir und unsere Vorfahren. Zum ersten Mal muss im Westen
eine politische Erzählung ohne Happy End auskommen. Wie in der
Wegwerfgesellschaft die Produkte sind auch die Worte zu Abfall geworden.
Klar ist: Die Gemeingüter besitzen eine außerordentliche Entfaltungskraft
der Erzählung. Sie tragen eine jahrhundertealte menschliche Erfahrung in
sich, die der privaten Aneignung von Land, Wald und Wasser, Güter, die
einst öffentlich waren. Unsere Gegenwart ist die Epoche, in der dieser Raub
eine enorme Beschleunigung erfahren hat.
Die Erzählung von der Wiederaneignung des Verlorenen besitzt ein enormes
Potenzial. Dazu gehören auch zentrale Errungenschaften des alten
Wohlfahrtsstaates, die der aggressive Neoliberalismus in Zweifel gezogen
hat. Dazu gehört etwa das alte britische Gesundheitssystem, das mehr oder
weniger umfassend in den anderen europäischen Ländern übernommen wurde und
welches das unbeschränkte Recht auf das Gemeingut Gesundheit
gewährleistete. Ein Gut, das sich nicht auf die Medizin im engeren Sinne
beschränken lässt, sondern weite Bereiche des sozialen Lebens einschließt,
von der Debatte über die Atomenergie bis zur Luftverschmutzung. Gleiches
gilt für die Wiederaneignung der Gemeingüter Wissen und Bildung für alle.
Aber jenseits von Auflistungen und ohne die Implikationen der Theorie zu
verfolgen: Wichtig scheint mir, ihre Anwendbarkeit auf alle Lebensbereiche
zu betonen, die das Konzept Gemeineigentum in sich einschließt. Man muss
nur ein bisschen nachdenken, schon kommt man auf den Himmel, die Luft, die
Städte, Straßen und öffentlichen Plätze, die Schönheit der Landschaft, die
Lebenszeit.
## Sehnsucht nach Zusammenhalt
Im Grunde ist die Wiederaneignung der Gemeingüter einfach Ausdruck der
Sehnsucht der Individuen, den gesellschaftlichen Zusammenhalt
wiederzufinden, der sie aus ihrer Isolation erlöst - ohne ihnen dabei ihre
Freiheit zu nehmen. Es ist die politische Erzählung, die den Menschen vor
der Angst der Moderne beschützen und ihnen eine Geschichte aufzeigen kann,
die Sinn hat und die das Unbehagen an der Gegenwart kritisch beleuchtet.
Sie bringt unterschiedliche Interessen zusammen und ermöglicht die
Partizipation aller sozialer Schichten - eine Perspektive, die in den
letzten Jahren bei allen völlig aus dem Blickfeld geraten ist.
Zuletzt: Diese neue Erzählung stellt sich in offenen Gegensatz zum
Grundwiderspruch des Kapitalismus. Der gemeinschaftlich produzierte
Reichtum fließt immer in die engen Bahnen der privaten Aneignung. Heute
geht es dabei aber nicht mehr nur mehr um die Anhäufung bestimmter Güter;
heute geht es um die ganze Erde, das gemeinsame Haus der Menschen, das von
der Zerstörung durch den Plünderungszug der Privatinteressen bedroht ist.
Und deswegen müssten potenziell alle die Erzählung von den Gemeingütern als
die ihre verstehen und annehmen können, jenseits politischer, sozialer,
kultureller und religiöser Grenzen.
Aus dem Italienischen von Ambros Waibel und Riccardo Valsecchi
2 Aug 2011
## AUTOREN
Piero Bevilacqua
## ARTIKEL ZUM THEMA
Debatte Europa: Immer Ärger mit Europa
Linke können sich im Recht wähnen, haben sich doch alle Vorbehalte
gegenüber dem "Neoliberalismus" bestätigt. Besser regieren würden sie
deshalb nicht.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.