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# taz.de -- Bürgerkrieg in Libyen: Junis, der Märtyrer
> Beim Freitagsgebet ist der ermordete Militärchef der alles überstrahlende
> Held in Bengasi. Die Prediger bekommen immer mehr Einfluss.
Bild: Tausende Menschen nehmen in Bengasi am Freitagsgebet teil.
BENGASI taz | "Märtyrer Junis." Mr Hamed deutet auf die Silhouette, die
sich an der Hafenpromenade von Bengasi abzeichnet. Gut 200 Meter weiter
hinten ist er vertäut - der Tanker, den die Rebellen vor ein paar Tagen von
der Regierung erbeuten konnten. Bis jetzt heißt das Schiff noch
"Cartagena". Doch, so versichert der graubärtige Ingenieur: das Schiff wird
umbenannt und heißen wie der ermordete Militärchef. Wäre es so - es passte
zur Umgebung.
An den Straßen, die auf das Gerichtsgebäude zuführen, das Herz der
Revolution, auf dem großen Gebetsplatz davor, an Laternenpfählen, Wänden,
überall prangen, auf Leinwand gedruckt die Fotos: Junis als Denker, Junis
privat mit Sonnenbrille, Junis in voller Montur mit Orden und Ehrenzeichen,
die Finger gespreizt, man weiß nicht, ob er das Victory-Zeichen macht oder
den Betrachter segnet. Junis, der Held, Junis, der Märtyrer. Ehe er im
Februar 2011 die Seiten wechselte, war der General Gaddafis Innenminister -
und selber für das Martyrium von Oppositionellen verantwortlich. Doch wer
will das heute hören?
"Einer von uns, wir kennen seine Familie." "Ein starker Mann." "Er hätte
unsere Armee nach Tripolis geführt." So heißt es unter denjenigen, die zum
Freitagsgebet unterwegs sind. Dort wo die Hafenpromenade auf den
Gebetsplatz führt, kontrollieren Soldaten die Passanten. "Alles hat der
Märtyrer für uns getan", sagt einer von ihnen. "Uns eingekleidet, als wir
keine Uniformen hatten, uns mit Waffen versorgt, als wir sie brauchten, uns
organisiert."
Dann entschuldigen sie sich, dass sie in Taschen einen Blick zu werfen
haben. Dies sei erst das zweite Freitagsgebet nach der Ermordung des
Generals. Mit Bomben und Attentaten sei zu rechnen. Durch wen? "Tabor
Chamis. Sie haben Junis umgebracht. Tabor Chamis ist überall." Tabor
Chamis, die "fünfte Gruppe", oder besser: Fünfte Kolonne, bezeichnet
Gaddafis Schläfer, seine Geheimdienstleute, die viele in Bengasi vermuten.
## Wie beim Popkonzert
Auf dem Gebetsplatz stehen vor der Tribüne Türme mit Lautsprecherboxen -
aufgebaut wie bei einem Popkonzert. Im Hintergrund hängt ein
überlebensgroßes Porträt des Militärchefs. Imam Nabil Sati betritt die
Bühne gravitätisch, räuspert sich, konzentriert sich einige Sekunden und
schreit dann ins Mikrophon, dass die Gehäuse klirren. Der Mann in der
braunen Festtags-Galabiya genießt die Wirkung seiner Stimme, schmettert,
kreischt, lässt sie wieder abschwellen, setzt Pausen, zieht langsam wieder
die Geschwindigkeit an, raunt und dann auf einmal brüllt er wieder. Die
Kontraste sind sorgfältig berechnet.
Inhaltlich geht es weniger abwechslungsreich zu, stattdessen: Der Krieg
gegen den Tyrannen ist religiöse Pflicht. Er muss weitergehen, auch im
Ramadan. In West und Ost, an allen Fronten gibt es Erfolge! Weiter so, bis
der Böse fällt! Wenige Tage nach dem Verlust des Militärchefs wären
eigentlich andere Töne zu erwarten - Einkehr, Bilanz: ist man noch auf dem
richtigen Weg?
Laut Ali Tarhuni, Finanzchef des Übergangsrats, ist der General von den
Dschirah-al-Obeidi-Brigaden ermordet worden. Die Miliz bezeichnete er vor
Reportern als eine islamistische Splittergruppe. Wäre das so, wäre es dann
nicht Zeit, zu untersuchen, ob die diversen selbsternannten Kommandeure mit
ihren "Revolutionären" nicht eine bedenkliche Eigendynamik entwickeln - und
den Politikern über den Kopf wachsen.
## "Es gibt nur einen Dschihad: gegen Gaddafi."
Nach seinem Auftritt hört sich Imam Nabil die Frage an und schüttelt
energisch den Kopf. Es gibt keine islamistischen oder dschihadistischen
Brigaden, konstatiert er. Nur einen einzigen Dschihad, den alle gemeinsam
führen: gegen Gaddafi. Und Ali Tarhunis Statement? "Ist unhaltbar. Er
verfügt über keine Informationen und ist von anderen Ratsmitgliedern
bereits für seine Äußerung gerügt worden. Tabor Chamis, die Fünfte Kolonne,
hat den General getötet." Wie soll es nach dem Attentat jetzt weitergehen?
"Wir brauchen einen dritten Weltkrieg, der so lange dauern muss, bis
Gaddafi weg ist." Und dann? "Kommt ein Staat, in dem die Scharia eine
wichtige Rolle spielt, in dem weltliches und religiöses Recht parallel
laufen und einander ergänzen."
Das sah man im Übergangsrat bisher ganz anders, ebenso wie in der
Religionsbehörde von Bengasi. Ein einziges Recht, so lautete bisher die
Zielvorgabe. Wenn es um Ehe und Familie geht, sind Elemente der islamischen
Tradition mit aufzunehmen. Ein paralleles Scharia-System, wie etwa in
Marokko und Ägypten, soll vermieden werden. Doch je länger der Krieg
dauert, desto mehr Einfluss scheinen Agitatoren wie Imam Nabil zu gewinnen.
Oder Männer wie Adel Elhas. Der Mittvierziger war nie Soldat. In den ersten
Tagen der Revolution traute er sich mit einem riesigen Anti-Gaddafi-Plakat
auf die Straße. Al-Dschasira filmte ihn, die Bilder gingen um die Welt.
Dank seiner Popularität führt Elhas jetzt ein paar hundert Männer auf einer
Militärbasis am Stadtrand von Bengasi. In seinem Büro zeigt er das Video,
das ihn berühmt machte. Gewehrträger im Kampfdress umschwirren ihn. Draußen
stehen Pick-ups mit dem Logo seiner Einheit an den Türen: "Freies Libyen".
Kommandeur Adel kennt die Kameraden von der Al-Obeidi-Brigade, jener, die
General Junis verhaftet hat. Nette Jungs, zuverlässig, man habe sich bei
den Kämpfen in Brega immer wieder getroffen. Islamisten? Elhas schüttelt
den Kopf. "Wir sind alle Muslime, wir tragen Bärte, aber wir wollen
Demokratie."
Sollten die unabhängigen Kampfgruppen nicht besser aufgelöst werden,
zugunsten einer einzigen regulären Armee? Dafür sieht er nicht den
geringsten Grund. "Wir haben uns wie alle anderen auch dem Oberkommando,
dem Verteidigungsministerium unterstellt. Wieso also das System ändern?"
Ein paar seiner Männer stecken die Nasen ins Büro, treten mit ihren
Gewehren ein, um für Fotos zu posieren. Sie sehen nicht aus, als hätten sie
Lust, bald ins Zivilleben zurückzugehen.
## Endlosclips am Nachmittag
Während des langen Ramadan-Nachmittags bieten die neuen Fernsehsender der
Revolution Endlosclips von ähnlichen jungen Männern, die zum Klang der
neu-alten libyschen Hymne alle Arten von MGs abfeuern, über Dünen springen,
auf Pick-ups fahren oder Panzerfäuste auf Gaddafi-Fahrzeuge abfeuern. Man
schaltet ab, schaltet nach Stunden wieder an: Es knallt und knattert und
singt immer noch.
Vielleicht macht sich jetzt bemerkbar, dass es in Libyen seit langem keine
Zivilgesellschaft gibt. Vielleicht liegt es an der Amtspause im Ramadan,
dass sich eitle Prediger und Kommandeure im Tarnfleck zusehends in den
Vordergrund spielen, auf Kosten der Politiker. Bengasi jedenfalls scheint
sich in eine Art Autismus einzuspinnen.
Fragen liegen auf dem Tisch, die schnellstens zu beantworten wären: Wer
steht hinter dem Mord am Militärchef? Kontrolliert der Übergangsrat noch
sämtliche der revolutionären Kampfgruppen? Gibt es Splittergruppen, die
eine eigene Agenda verfolgen?
Doch statt den Weg zu betrachten, den man gerade geht, blicken viele lieber
auf: zu Junis, dem Anti-Gaddafi, zu Junis, dem Märtyrer.
12 Aug 2011
## AUTOREN
Marc Thörner
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