# taz.de -- Verstärker für die linke Szene in Westberlin: Mensch, Mauer! | |
> Mit dem Mauerbau zog die Industrie aus Berlin weg, es kamen die | |
> Kriegsdienstverweigerer. Im Biotop Westberlin blühte die linke Szene - | |
> mit all ihren Irrtümern. | |
Bild: Unter Beobachtung: Ein Ostberliner Polizist bei der Arbeit an der Mauer (… | |
BERLIN taz | Der große Saal der Westberliner Akademie der Künste, 1964. | |
Pier Paolo Pasolini, gefeierter italienischer Filmemacher und Autor, | |
überrascht das - überwiegend linksgestimmte - Publikum mit einer | |
unerwarteten Frage: Warum ist der Bau der Berliner Mauer kein Thema für die | |
deutschen Filmemacher? | |
Obwohl seit Kriegsende kaum ein Ereignis so tief in das Leben der Menschen | |
eingegriffen hat? Peinlich berührtes Schweigen. Die darauf folgenden | |
Erklärungsversuche, es handle sich beim Mauerbau um ein vollständig von der | |
Politik vereinnahmtes Thema und man wolle weder eine Anklage- noch eine | |
Rechtfertigungspropaganda, wischt Pasolini beiseite. Nichts Wichtiges, was | |
das Zusammenleben der Menschen betrifft, verschließe sich der | |
differenzierten künstlerischen Bearbeitung. | |
## Was geht uns die Berliner Mauer an? | |
Die gleiche Frage "Was geht uns die Berliner Mauer an?" hätte man in den | |
folgenden zweieinhalb Jahrzehnten auch an die Berliner Linke richten | |
können. Auch hier wäre peinlich berührtes Schweigen die erste Antwort | |
gewesen. Und das, obwohl der Mauerbau vielleicht eine zentrale Vorbedingung | |
dafür war, dass in Westberlin eine unabhängige, radikale linke Bewegung | |
entstehen konnte - als Vorreiter, wie auch als Bestandteil des Westberliner | |
Biotops der siebziger und achtziger Jahre. | |
Die schier unfassbare Brutalität des Mauerbaus diskreditierte 1961 für | |
lange Zeit die Hoffnungen, die sich für viele westliche Linke mit der DDR | |
als einem wenngleich bürokratisch deformierten, aber doch | |
entwicklungsfähigen Stück Sozialismus auf deutschem Boden verbunden hatten. | |
Die politische Rechtfertigung der Mauer als "antifaschistischer Schutzwall" | |
war eine offensichtliche Propagandalüge und gab für die Rechtfertigung | |
nichts her. Als factum brutum zwang die Mauer das Häufchen Linker, das in | |
der Sozialdemokratie keine Heimat fand, zu einer eigenständigen | |
Positionsbestimmung jenseits des Kapitalismus wie des Realsozialismus. Eine | |
Herausforderung. Aber auch eine Chance. | |
Demografisch, wirtschaftlich und politisch bedeutete der Mauerbau einen | |
tiefen Einschnitt in das Westberliner Getriebe. Viele bedeutende | |
Unternehmen der verarbeitenden Industrie wanderten nach 1961 nach | |
Westdeutschland ab und mit ihnen Management, qualifizierte Techniker, | |
Facharbeiter und ganze Forschungsabteilungen. Der Altersdurchschnitt der | |
Bevölkerung stieg im Verhältnis zu den westdeutschen Städten steil an. | |
Daran konnten auch massive Geldspritzen, Investitionszulagen und | |
Steuerermäßigungen (die sogenannte Zitterprämie) nichts ändern. Die Frage, | |
ob ein karrierebewusster junger Mensch nach 1961 bereit war, nach Berlin zu | |
gehen, um dort sein Glück zu machen, kann mit einem glatten Nein | |
beantwortet werden. | |
## Freie Universität | |
Wer kam stattdessen? Eine Jahr um Jahr anschwellende Schar junger Leute mit | |
Abitur, die nach Westberlin zogen, um sich dem Wehrdienst zu entziehen. Es | |
gab billige Wohnungen und die Lebenshaltungskosten lagen unter dem | |
bundesdeutschen Großstadt-Durchschnitt. Mit der Freien Universität | |
existierte in Westberlin eine Bildungsanstalt mit antifaschistischem wie | |
antistalinistischem Anspruch. Sie war in ihrem Lehrangebot und in ihrer | |
inneren Struktur ursprünglich als Alternative zum konventionellen | |
Universitätsbetrieb gegründet worden, wenngleich sich dieser Anfangsimpetus | |
in den sechziger Jahren weitgehend verflüchtigt hatte. | |
Und: In Westberlin gab es ein überreiches Angebot an kultureller | |
Produktion, das vom Senat, vom Bund und von den USA reich alimentiert | |
wurde. Bedeutende und wohldotierte Künstler und Schriftsteller machten in | |
Westberlin Station. Mit der Truppe des berühmt-berüchtigten Living Theatre | |
hielt der Haschkonsum in die linke Intelligenzija Berlins Einzug. Wer als | |
junger Mensch nach Westberlin zog, tat das nicht um einer raschen Karriere | |
willen, sondern aus Lebenslust und Erwartungshunger. Oder einfach, weil es | |
keine Sperrstunde gab. Westberlin - the best place in the world to get | |
drunk. So hatte die alte Forderung der Sowjetunion, Westberlin zu einer | |
entmilitarisierten freien Stadt zu machen, für die Linke einen beachtlichen | |
Realitätsgrad erreicht. Dieses Biotop in Progress wurde zur sozialen Basis | |
der radikal linken Bewegung. | |
Der Lebensstil, vor allem aber die gegen den amerikanischen Krieg in | |
Vietnam gerichtete Bewegung entfremdete die jungen Leute von der | |
alteingesessenen Berliner Bevölkerung. Jeder Angriff auf die Politik der | |
USA bedeute für die Ureinwohner einen Angriff auf ihre Beschützer, auf die | |
Freiheit Westberlins. Gerade weil Westberlin vollständig am Tropf der | |
Bundesrepublik hing, hielt die Bevölkerung eisern an ihrem | |
Selbstverständnis fest, wonach die Berliner Vorkämpfer der Freiheit gegen | |
den Unrechtsstaat und sein Symbol - die Mauer - waren. Wer dies nicht | |
achtete, war eben ein typischer Westdeutscher, ein satter Bundesbürger. | |
Und die, die in Westberlin randalierten, waren schließlich die Kinder | |
dieser Undankbaren. "Geh doch nach drüben", schallte es den Demonstranten | |
entgegen. Nach drüben - jenseits der Mauer, wo ihr hingehört und wo man | |
euch Mores lehren wird. Aber diese Erziehungsarbeit hatten die Berliner | |
Linken nicht nötig. Jede Grenzkontrolle, jede Belehrung, jede | |
Beschlagnahmeaktion erwies den autoritären Charakter des Regimes. Was sich | |
östlich der Mauer abspielte, galt als öde. Als intellektuell uninteressant. | |
So kam es, dass es kurz vor dem Fall der Mauer Angehörige des Berliner | |
Biotops gab, die noch nie in Ostberlin gewesen waren, von der übrigen DDR | |
zu schweigen. | |
## Der neue Mauertyp "Grenzmauer 75" | |
Mit jedem Jahr der "Normalisierung" des Mauerbaus nahm das politische | |
Interesse an der Mauer und die Forderung nach ihrer Beseitigung im linken | |
Milieu ab. Verstärkt wurde diese Tendenz durch die Anwendung des Satzes | |
"Der Feind meines Feindes ist mein Freund". Wenn die Springerpresse an | |
ihrer "Macht das Tor auf"-Demagogie und an ihrer DDR mit Gänsefüßchen | |
festhielt, konnte dies nicht Sache der Linken sein. Die beginnende | |
Entspannungspolitik nach dem ersten Passierscheinabkommen von 1963 traf auf | |
die Sympathie vieler Linker. Die Propaganda der Springerpresse erschien | |
ihnen nicht nur realitätsfremd, sondern auch gefährlich. Denn wie sollte | |
die Mauer beseitigt werden, wenn nicht durch Krieg? | |
1976 machten sich die DDR-Grenztruppen daran, einen neuen Mauertyp zu | |
errichten, die "Grenzmauer 75". Dieses drei Meter fünfzig hohe, aus | |
Betonplatten errichtete Bauwerk stand direkt neben der Sektorengrenze und | |
war meist weiß grundiert. Als wäre dies eine Einladung der DDR-Behörden an | |
das Westberliner Biotop gewesen, machten sich Maler, Graffitikünstler, | |
Kritzler aller Art - darunter auch ein paar politische Köpfe - an die | |
Arbeit. Allerdings galt es, vorsichtig vorzugehen. Denn die neue Grenzmauer | |
stand ein paar Meter auf Ostberliner Gebiet und war mit Türen versehen, die | |
vom Westen aus nicht sichtbar waren. Mancher Graffitikünstler wurde | |
festgenommen und musste sich als Grenzverletzer verantworten. | |
Diese Verwandlung der Mauerwestseite in ein Betätigungsfeld freier | |
künstlerischer Tätigkeit entsprach ziemlich genau der Bewusstseinslage im | |
Westberliner linken Biotop. Aber sie war auch Ausdruck selbstbezogener | |
politischer Blindheit und Gleichgültigkeit gegenüber dem Schicksal derer | |
jenseits der Mauer. Deshalb war es kein Wunder, dass die Linke von der | |
demokratischen Revolution in der DDR und dem Mauerfall überrollt wurde. Und | |
dass sie keine politische Antwort fand, als die nationale Frage urplötzlich | |
wieder auf der historischen Agenda stand. | |
## , 72, war einer der Köpfe der Westberliner Studentenbewegung und | |
Vorsitzender der maoistischen KPD-AO | |
13 Aug 2011 | |
## AUTOREN | |
Christian Semler | |
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