# taz.de -- Schriftsteller Sergio Álvarez über Gewalt: "Wir hören nicht auf … | |
> Der kolumbianische Schriftsteller Sergio Álvarez über seinen Roman "35 | |
> Tote", die Jagd der Kolumbianer nach intensiven Momenten und die Rolle | |
> der Gewalt in Südamerika. | |
Bild: Gedenkfeier für gefallene Soldaten in Kolumbien. | |
taz: Herr Álvarez, Ihr Protagonist wächst in einer marxistischen Kommune | |
auf, verfällt als Jugendlicher dem Konsum, wird Soldat, Auftragskiller und | |
Drogenhändler, ohne Letzteres überhaupt bemerkt zu haben. Ist das nicht | |
viel zu viel für ein einziges Leben? | |
Sergio Álvarez: Vielleicht muss man als Autor etwas dicker auftragen, aber | |
das ist es, was den Leuten hier passiert. Man lernt jemanden an der | |
nächsten Ecke kennen, der früher mal Bäcker war oder Metzger. Das Geschäft | |
lief schlecht, also wurde er Straßendieb. Ein Militär wirbt ihn an, dort | |
bekommt er Geld. Und noch mehr Geld bekommt er, wenn er Auftragskiller wird | |
- schießen kann er dann ja. Die Menschen in Kolumbien leben immer noch | |
unter schwierigen Umständen und handeln nicht, weil sie an das, was sie | |
tun, glauben - sondern um bestimmte Notwendigkeiten oder Interessen zu | |
befriedigen. | |
Warum hat Ihre Hauptfigur keinen Namen? | |
Was ihm passiert, passiert uns allen. Und zudem gibt es in diesem Land | |
unzählige anonyme Tote. Die Opfer hier haben keine Namen, auch diejenigen | |
Opfer nicht, die überleben. | |
Sie sehen ihn, der anderen Menschen selbst auch viel Schaden zufügt, als | |
Opfer? | |
Ja. Aber Opfer sind oft nicht nur Opfer, sondern zugleich auch Täter. Im | |
Roman gibt es eine Stelle, an der einige Bauern an einem Massaker beteiligt | |
sind. Sie verdienen damit Geld, das sie brauchen - aber sie gehen auch | |
einen Weg, der ihnen einfach erscheint. Das ist das große Problem in | |
Kolumbien: Oft wird der einfachste Weg gegangen. | |
Neben der Hauptfigur erzählt der Roman in kleinen Episoden aus dem Leben | |
unzähliger weiterer Figuren des Kolumbiens der letzten 35 Jahre. | |
Die Stimmen sind wie ein Panorama. Vielleicht muss man das erklären, weil | |
es in Kolumbien etwas gibt, das ganz anders funktioniert als in Europa: Man | |
geht irgendwohin und kennt niemanden, sagen wir, in eine Bar. Man unterhält | |
sich mit jemandem und stellt fest: Der andere und ich, wir mögen beide | |
Fußball. Also geht man am nächsten Tag zusammen ins Stadion. Und vielleicht | |
trifft man sich danach nie wieder. So funktioniert auch der Roman: Es gibt | |
diese eine große Geschichte, und es gibt viele kleine spontane Geschichten. | |
Viele Figuren, auch die Hauptfigur, geraten durch Zufall, Lust auf Sex, | |
Langeweile oder Bequemlichkeit in die Guerilla, zu den Militärs oder auch | |
wieder hinaus. Sie wählen nicht, die Dinge passieren ihnen einfach. | |
So sind wir. Aber die Leser sollen sich bewusst werden, dass es auch andere | |
Optionen gibt. Wir müssen uns entscheiden und können nicht einfach | |
abwarten, bis die Ereignisse uns überrollen. | |
Haben die Figuren denn eine Wahl? | |
Jeder hat die Wahl. Menschen können sich immer entscheiden, unter allen | |
Umständen. Das heißt nicht, dass das einfach wäre. Aber ich glaube, dass | |
dieses Land andere Möglichkeiten hat und immer hatte. Viele haben die | |
Hoffnung darauf verloren. Das ist ein großer Fehler. | |
Auch die Hauptfigur hat den Glauben an die Politik verloren. | |
Für meine Hauptfigur existiert Politik nicht. Er weiß ja nicht einmal, wer | |
wer ist und gerade welche Interessen vertritt. Es gibt scheinbare | |
Guerilleros, bei denen sich später herausstellt, dass es eigentlich | |
Paramilitärs sind. | |
Neben der Politik haben ihn seine Freunde betrogen und seine Frauen | |
verlassen. Was lässt ihn weitermachen? | |
Etwas typisch Kolumbianisches an dieser Figur ist die Lust am Leben. Man | |
geht in eine Bar, tanzt, verliebt sich. Die Menschen in Kolumbien haben | |
noch immer wenig Chancen, sich ein stabiles Leben aufzubauen. Deswegen | |
werden die kleinen, intensiven Momente wichtiger. Sie sind wie Drogen, die | |
der Protagonist ja auch gut kennt: Ständig sind die Menschen auf der Suche | |
nach intensiven Momenten. | |
Welche Rolle spielen dabei die Kultur, die Musik, der Tanz? | |
Eine sehr, sehr große. Die Kolumbianer mussten nun einmal feststellen, dass | |
sie von der Politik nichts zu erwarten haben. Also flüchten sie sich in die | |
Kultur. Da arbeitet einer die ganze Woche, vielleicht für einen Minister, | |
von dem er weiß, er ist ein Mörder. Und in diesem Wissen wartet er aufs | |
Wochenende, an dem er tanzen oder spazieren geht und Mädchen trifft. Die | |
Menschen schaffen sich kleine Fluchten, die wie eine andere Welt für sie | |
sind. Im Buch erzählt ein Militär in einem Gedicht, was passiert, wenn er | |
tanzen geht. Der Typ ist die ganze Woche über ein Mörder, gegen Geld. Und | |
dann geht er am Wochenende tanzen. So funktioniert das System. | |
Wie haben Sie recherchiert? | |
Zuerst habe ich gelesen, dann bin ich gereist. Ich war an allen möglichen | |
Orten des Landes, bin hier ein paar Tage geblieben und dort ein paar | |
Wochen. Ich wollte weniger die kolumbianische Geschichte erzählen als das, | |
was sie mit den Menschen gemacht hat. Die Autobombe interessiert mich nicht | |
- aber die Frau, die dadurch eine Hand verloren hat. | |
Im Roman spielt das Wort "Zukunft" eine große Rolle. Welche Perspektive | |
haben Ihre Figuren auf die Zukunft? | |
Der Roman, das Land ist wie eine Achterbahn. Eine ganze Weile geht es nach | |
oben, und die Menschen haben die Illusion, dass es immer so weitergeht. Und | |
dann fallen sie. Es würde mich sehr freuen, wenn die Menschen in Kolumbien | |
oben bleiben könnten. Aber wie die Dinge momentan sind, glaube ich das | |
nicht. | |
Und trotzdem liest sich der Roman nicht nur schrecklich und tragisch. Den | |
Figuren geht der Sinn für Humor nicht verloren. | |
So ist das in Kolumbien. Das Leben hier kann grausam sein, und trotzdem | |
hören wir nicht auf, darüber zu lachen. | |
Das Gespräch mit Sergio Álvarez wurde in Bogotá, Kolumbien geführt. | |
16 Aug 2011 | |
## AUTOREN | |
Patricia Hecht | |
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