# taz.de -- Die Wahrheit: Moorleichen in spe | |
> "Lass uns verschwinden!", ächzte Raimund: "Diese Party ist genauso tot | |
> wie mein Glaube an das Gute im Menschen!" Ich war nicht überrascht. ... | |
... Jedes Mal, wenn es irgendwo eine Party gab, wiederholte sich dasselbe | |
Muster: Tagelang ging Raimund mir mit seinem Enthusiasmus auf die Nerven: | |
"Eine Party, o boy!", rief er. Er benahm sich, als ob er mit einem | |
Zitteraal schwimmen gewesen wäre: "Wir werden auf den Tischen tanzen, wir | |
werden ausgelassen und übermütig sein wie junge Katzen, und morgens, wenn | |
wir die Sonne aufgehen sehen, werden wir wieder wissen, dass das Leben | |
manchmal herrlich sein kann!" | |
Kaum aber war der Tag der Party gekommen, kaum hatten wir eine halbe | |
Flasche Bier getrunken, war all sein Überschwang verflogen: "Boah, ich | |
langweile mich zu Tode! Lass uns abzischen - wenn du nicht mitkommst, geh | |
ich allein!", sagte er, und ein weiteres halbes Bier später wackelte er | |
niedergeschlagen hinaus in die Nacht. | |
Diesmal jedoch befanden wir uns nicht irgendwo in der Stadt, sondern weit | |
draußen, auf einem alten Gutshof im Moor. Wir waren bei Luis und Beate im | |
Auto mitgefahren, und die beiden sahen nicht so aus, als ob sie schon nach | |
Hause wollten. "Dann geh ich zu Fuß!" - "Zu Fuß?! Bei dir piepts doch, | |
Raimund!" Raimund behauptete, eine Abkürzung zur S-Bahn-Station quer durchs | |
Moor zu kennen. "Eine Abkürzung durchs Moor?", rief ich: "Bist du denn …?!" | |
Schon aber hatte er sein Bier ausgetrunken, und weil er seine Jacke in dem | |
Jackenpartyhaufen weitaus schneller fand als ich, gewann er die | |
entscheidenden Meter Vorsprung: Als ich ins Freie stolperte, kletterte er | |
auf der anderen Seite des Hofes bereits über den Zaun. "Raimund!" Ich | |
setzte ihm nach, sprang über den Zaun, drang vor in den Nebel, sah schon | |
nach fünf Schritten nicht mehr die Hand vor Augen, geschweige denn Raimund, | |
hörte es ringsum gluckern und und gurgeln und quaken und latschte sofort | |
ins Nasse, so dass ich erst mal bis über die Knöchel im Modder versank. | |
Als ich wieder trockenen Boden erreicht hatte, stieß ich mit einem anderen | |
Körper zusammen und schrie auf. Der andere Körper schrie ebenfalls auf. Es | |
war Raimund. "Mann", schnaufte er, "du hast mich zu Tode erschreckt!" | |
Schlimmer allerdings war, dass er die Abkürzung doch nicht so gut kannte. | |
"Vielleicht gehen wir besser zurück", sagte er. "Gern", sagte ich, "aber wo | |
geht es zurück?" Längst war der Hof im Nebel verschwunden. Wir hörten Musik | |
in der Ferne, doch sie schien aus allen Richtungen zu kommen. Wir tappten | |
hierhin, tappten dorthin: Jedes Mal versanken wir umgehend zentimetertief | |
im Morast. "Tja", sagte ich, "anscheinend müssen wir auf diesem trockenen | |
Inselchen bis Sonnenaufgang ausharren, wenn wir nicht als Moorleichen enden | |
wollen." | |
Als es dämmerte, tauchte der Hof in geringer Entfernung aus dem Nebel auf. | |
Erschöpft und nass bis auf die Knochen platschten wir zurück, und als wir | |
näher kamen, sahen wir durch die großen Fenster, dass man gerade damit | |
beschäftigt war, auf den Tischen zu tanzen und das Leben einfach herrlich | |
zu finden. | |
17 Aug 2011 | |
## AUTOREN | |
Joachim Schulz | |
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