# taz.de -- Chinesischer Schriftsteller Liao Yiwu: Allein in Berlin | |
> Vor vier Wochen musste Schriftsteller Liao Yiwu China verlassen. Auf | |
> seinen Wunsch hin hat die taz ihn an Mauergedenkorte begleitet - und zum | |
> Chinesen. | |
Bild: Hat viel zu bedenken: Liao Yiwu. | |
BERLIN taz | Das Literaturhaus in der Fasanenstraße im Stadtviertel | |
Charlottenburg ist ein gepflegter Ort. Im Garten säumen gestutzte | |
Buchsbaumhecken die geharkten Schotterwege, und ein kleiner Springbrunnen | |
plätschert vor sich hin. Ganze Nachmittage mit dicken Romanen kann man in | |
diesem Café verbringen und bei Bärlauchrisotto und Mohn-Eierschaum-Torte | |
von Wien um 1900 träumen. | |
Vorm Wintergarten der Gründerzeitvilla sitzt jemand, der hier nicht hin | |
passt. Es ist der chinesische Schriftsteller Liao Yiwu mit kahlem Kopf und | |
schwarzer ausgebleichter chinesischer Jacke. Er wirkt belustigt. Das Erste, | |
was er mit einem Augenzwinkern sagt, ist: "Ein wunderschöner Ort." Das | |
Zweite: "Mir ist ein wenig langweilig." | |
Es ist jetzt vier Wochen her, dass Liao Yiwu hier Asyl und Unterkunft fand. | |
Damit sein zweites Buch, "Für ein Lied und hundert Lieder", über seinen | |
Gefängnisaufenthalt in China von 1989 bis 2003 in Deutschland erscheinen | |
durfte, musste er ausreisen. Bald wird er in die USA und nach Australien | |
fliegen, 2012 hat er ein Stipendium des DAAD. Ob er danach zurück in seine | |
Heimat kann, ist ungewiss, denn nach wie vor herrscht in China Eiszeit, | |
viele Regimekritiker wie der Nobelpreisträger Liu Xiaobo befinden sich | |
hinter Gittern. | |
## Staatsfeind außer Gefahr | |
Auch Liao Yiwu ist ein Staatsfeind. Erst jetzt ist er außer Gefahr. Seit | |
seinem Gefängnisaufenthalt schneidet er unverdrossen "Volkes Stimme" mit, | |
hört auf "den Bodensatz der chinesischen Gesellschaft", das sich keine | |
Illusionen macht über die Rechte des Individuums in dieser. Ein Ausschnitt | |
seiner Arbeit hat Liao Yiwu 2008 in Deutschland unter dem Titel "Fräulein | |
Hallo und der Bauernkaiser" bekannt gemacht. | |
Seine Erinnerungen ans Gefängnis, die es vor Kurzem in die Bestsellerlisten | |
geschafft haben, sind so wichtig wie Alexander Solschenyzins "Archipel | |
Gulag", nur dass sie in ihrem Versuch, gegen die eigene Vernichtung | |
anzuschreiben, noch erschütternder sind. | |
Heute hat sich Liao Yiwu gewünscht, zur Berliner Mauer zu fahren. Er hat | |
gehört, dass sich dieser Tage der Mauerbau zum fünfzigsten Mal jährt. Wir | |
steigen ins Auto. Liao Yiwu kurbelt die Fenster ganz runter, er schaut | |
neugierig nach links und rechts. | |
Wir passieren die Gedächtniskirche. Es geht vorbei an der japanischen | |
Botschaft in der Hiroshimastraße, vorbei am Holocaustmahnmal und | |
schließlich am Dokumentationszentrum "Topographie des Terrors". Liao Yiwu | |
will wissen, wie es ist, wenn man an jeder Ecke zum Erinnern aufgefordert | |
wird. Er will wissen: Gibt es so etwas wie ein staatlich verordnetes | |
Erinnern? | |
## Verloren unter Touristen | |
Unsere erste Station ist der Checkpoint Charlie. Liao Yiwu hat die Hände | |
auf dem Rücken verschränkt und schaut nach oben. Er will wissen, wer die | |
Soldaten auf der großen Gedenktafel sind. Er beobachtet einen älteren | |
Amerikaner in kurzen Hosen, der sich mit einem jungen Mann in Uniform | |
ablichten lässt. Aufgeregt läuft Liao Yiwu hin und her, unglaublich, dass | |
eine auffällige Figur wie er zwischen Touristen verloren gehen kann. | |
Endlich taucht er wieder bei den Gedenktafeln der Freilicht-Galerie auf. Er | |
will alles wissen: Wie war das mit den DDR-Fluchten? Mit den Tunneln? In | |
den Kofferräumen? Mit den Leichtflugzeugen und den Heißluftballons? | |
Amüsiert schaut sich der chinesische Schriftsteller die Auslagen der | |
Straßenhändler an, bei denen man sich mit russischen Pelzmützen ein Stück | |
Kalten Krieg kaufen kann. Verwundert zeigt er auf die Trabis mit Zebra- und | |
Giraffen-Muster, die man sich ein Stückchen weiter für eine Stunde mieten | |
kann. Eine Stretchlimousine fährt vorbei. | |
Mit einem solchen Getümmel hat Liao Yiwu offenbar nicht gerechnet. Und | |
trotzdem scheint er nicht schlecht zu finden, was er sieht. Im Auto zur | |
Gedenkstätte Berliner Mauer an der Bernauer Straße, die er auch noch | |
anschauen will, erzählt er, warum. In China hat im Frühling 1989 mit der | |
Demokratiebewegung alles angefangen. Damals schrieb er sein Gedicht | |
"Massaker" über die Niederschlagung der Bewegung. | |
Dafür kam er ins Gefängnis. "Es war der Anfang vom Ende", sagt er und meint | |
damit nicht sein eigenes Leben. Er meint vielmehr: Während die meisten | |
kommunistischen Regimes im Herbst 1989 abdankten, blieb das in China | |
bestehen. Er kann am kollektiven Erinnern, auch an der Vermarktung des | |
Gedenkens, nichts Schlechtes finden. "Deutschland schaut zurück, aber es | |
kommt weiter", sagt er. "China schaut nach vorn. Aber es zerfällt. Vor | |
allem moralisch." | |
Liao Yiwu hat in vielen Interviews gesagt, er sei das Tonbandgerät seiner | |
Generation. Er ist in China einer der wenigen Autoren und Künstler, die | |
sich für Alltag, für Geschichten des privaten Lebens, für den subjektiven | |
Blick auf Politik und Zeitgeschichte interessieren. Zwar gibt es im | |
chinesischen Fernsehen einen Boom von Dokumentationen und Seifenopern über | |
Heldentaten von vor tausend Jahren, aber Erinnerungen an die jüngsten | |
Krisen und Katastrophen wie die größte von Menschen ausgelöste Hungersnot | |
1959 bis 1961, bei der 20 bis 40 Millionen Menschen starben, werden noch | |
immer verdrängt und verboten. | |
## Ein bisschen Popstar | |
Nachdem Liao Yiwu den ungleich ernsteren Ort des Gedenkens an der Bernauer | |
Straße, die rostigen Reste der Berliner Mauer, die Kreuze und die Fotos der | |
Mauertoten lange genug auf sich hat wirken lassen, da bittet er plötzlich | |
darum, irgendwo chinesisch essen gehen zu dürfen. Man hört, dass Liao Yiwu, | |
seit er in Deutschland lebt, viel mit Schriftstellern wie Wolf Biermann und | |
Herta Müller zusammenkommt. | |
Er wird hofiert, wie der Westen gern Dissidenten wie ihn hofiert. Manchmal, | |
heißt es, wird Liao Yiwu inzwischen sogar auf der Straße erkannt. Jetzt, | |
auf dem ehemaligen Todesstreifen an der Bernauer Straße, der heute nur noch | |
friedlich wirkt, da scheint Liao Yiwu der einsamste Mensch in ganz Berlin | |
zu sein. | |
Wenig später, in einem kleinen, unscheinbaren Lokal in Prenzlauer Berg, das | |
kaum einer kennt, bei Knoblauchgurken, sauren Schweinsohren und den besten | |
chinesischen Maultaschen der Stadt, da scheint Liao Yiwu schon wieder | |
gelöster, entspannter. Und erzählt von einem Film, den er vor wenigen | |
Jahren mit befreundeten Künstlern in China drehte. | |
Der Film ist eine Versuchsanordnung. Es geht darum, in den Ruinen eines | |
verlassenen Umerziehungslagers, wo in den fünfziger Jahren viele sogenannte | |
Rechtsabweichler ermordet wurden, mit einer Musikperformance der Toten zu | |
gedenken. Der Versuch scheitert, sagt Liao Yiwu. Am Ende betrinken sich | |
alle nur. "Vielleicht braucht es Rituale, um sich zu erinnern", meint er. | |
Vielleicht gibt es Erinnerungen, die zu groß und zu unfassbar sind für | |
einen Einzigen, der gar nicht weiß, wo er anfangen soll. Es braucht feste | |
Formen. Wie den Checkpoint Charlie, der so gesehen immer noch das kleinere | |
Übel ist. | |
Der Nachmittag vergeht, erst gibt es grünen Tee, dann harten chinesischen | |
Schnaps, und langsam treffen die ersten Gäste zum Abendessen ein. Liao Yiwu | |
erzählt von Nabokovs Memoiren mit dem schönen Titel "Erinnerung, sprich". | |
Von Marcel Proust. Und von Sima Qian, dem Begründer der chinesischen | |
Geschichtsschreibung. Wie die Bücher all dieser Autoren leben auch die von | |
Liao Yiwu von der Wirklichkeit - von dem, was er erlebt, und von dem, was | |
er recherchiert und aufgezeichnet hat. Wie wird es weitergehen mit ihm, | |
wenn er nicht zurück nach Hause kann? | |
Er lacht. "Ich bin 54 Jahre alt", sagt er. "Ich habe genug gesammelt." Und | |
dann erzählt er von den vielen noch nicht aufgeschriebenen Interviews. Und | |
von seinem neuen Buch. Es handelt von Augenzeugen, die in China noch nie zu | |
Wort gekommen sind. Leuten, die das Massaker auf dem Platz des Himmlischen | |
Friedens am 4. Juni 1989 miterlebt haben. Es wird nächstes Jahr in | |
Deutschland erscheinen. | |
17 Aug 2011 | |
## AUTOREN | |
Susanne Messmer | |
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