| # taz.de -- Debatte zu Schirrmachers Linksbekenntnis: Aus Erfahrung klüger | |
| > Führende Konservative wie Frank Schirrmacher "beginnen zu glauben, dass | |
| > die Linke recht hat". Mal sehen, wie weit ihre Einsicht trägt. | |
| Bild: Durchgeknallter Konservativismus: Tea-Party-Anhänger protestiert vor dem… | |
| Es gibt so Texte, die einschlagen. Die Kolumne, die Charles Moore vor ein | |
| paar Wochen im britischen Daily Telegraph schrieb, war so ein Text dieser | |
| Art. "Ich beginne zu denken, dass die Linke recht hat", schrieb Moore. Das | |
| ist deshalb so bemerkenswert, weil Moore seit Jahrzehnten eine Zentralfigur | |
| des britischen Konservativismus ist. Moore ist auch der offizielle Biograf | |
| der erzkonservativen Eisernen Lady Margaret Thatcher und ein Reagan- und | |
| Thatcher-Anhänger der ersten Stunde. | |
| Jetzt hat Frank Schirrmacher, Herausgeber der Frankfurter Allgemeinen | |
| Zeitung, in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung nachgelegt. Das | |
| politische System diene nur den Reichen. Werte wie Autonomie, Freiheit, | |
| freie Marktwirtschaft, Individualismus, von Bürgerlichen immer | |
| hochgehalten, seien von den Neoliberalen gekapert worden. In ganzen | |
| Absätzen hangelt sich Schirrmacher entlang der Philippika von Moore, lässt | |
| aber keinen Zweifel: Er sieht das genauso. | |
| ## Renegatentum, mal andersrum | |
| Erstaunlich sind solche Sätze wie "dass die Reichen immer reicher werden" | |
| natürlich vor allem, weil sie diesmal nicht von Jean Ziegler oder Sahra | |
| Wagenknecht, sondern von einflussreichen konservativen Autoren kommen. Und | |
| weil sie klipp und klar, ja demonstrativ sagen: Wir müssen einsehen, die | |
| anderen haben recht. Er und immer mehr im bürgerlichen Lager, so | |
| Schirrmacher, müssten zugeben, dass man sich längst frage, "ob man richtig | |
| gelegen hat, ein ganzes Leben lang". Solche Texte kommen einem | |
| Seitenwechsel sehr nahe. | |
| Wenn wir in einem Akt hermeneutischer Lektüre versuchen wollen zu | |
| verstehen, warum diese Autoren gerade jetzt diesen Seitenwechsel | |
| annoncieren, dann liegt zunächst einmal der Schluss nahe: Da ist viel Frust | |
| im Spiel. Der Mainstream-Konservativismus, wie Schirrmacher ihn beschreibt, | |
| hat sich praktisch zum bloßen Erfüllungsgehilfen von Plünderern gemacht und | |
| ist intellektuell vollkommen ausgedünnt. Er hält das System einfach weiter | |
| am Laufen, das die Fat Cats bevorzugt, aktionistisch, von Rettungsprogramm | |
| zu Rettungsprogramm. | |
| Dieses Vakuum wird aber nicht von einem klugen, vernünftigen | |
| Konservativismus gefüllt, sondern von einem irren und wirklichkeitsfremden. | |
| Von einem, der mit dem rechten Populismus flirtet. Oder gar von einem | |
| radikalen Konservativismus nach Tea-Party-Modus, der alle Vernunft, ja | |
| insbesondere auch ökonomische Vernunft fahren lässt. Von einem | |
| verantwortungslosen Konservativismus, der bereit ist, ganze | |
| Volkswirtschaften zu verheeren und ganze Nationen pleitegehen zu lassen, | |
| nur weil das seinen ideologischen Verbohrtheiten entspricht. | |
| Das gilt nicht nur in Amerika, wo gerade der ultrakonservativen Michele | |
| Bachmann die Herzen des rechten Lagers zufliegen. In Europa ist es kaum | |
| besser: Da hat soeben Tory-Premier Cameron seine Sicht der Jugendkrawalle | |
| dargelegt: nämlich, dass es den Armen bloß an "Moral und Disziplin" fehle. | |
| In Deutschland will die FDP ihrer Klientel immer noch Steuererleichterungen | |
| zuschanzen, trotz klammer Kassen – ansonsten liebäugelt man mit einem "Kein | |
| Geld für Pleitegriechen"-Populismus. | |
| ## Wie kommen wir da nur raus? | |
| Was soll ein Bürgerlicher da tun, der genug Intelligenz und Realitätssinn | |
| besitzt, um zu wissen, dass es, zum Beispiel, keine gute Idee ist, die | |
| Staatsschulden zu reduzieren, indem man das Nationaleinkommen vermindert – | |
| so wie das all die Sparprogramme tun, die jetzt aufgelegt werden? Der, | |
| exakt gesagt, weiß, dass das sogar eine saudumme Strategie ist? Oder der | |
| ahnt, dass das frivole Anwachsen der Ungleichheiten Gesellschaften nicht | |
| "leistungsfähiger" macht, wie das unsere Propagandisten von "Leistung muss | |
| sich lohnen" immer behauptet haben, sondern vielmehr von innen heraus | |
| verrotten lässt? | |
| Der muss dann feststellen, dass all das, was bisher als Common Sense im | |
| seinem Milieu galt, gar nicht wahr ist: beispielsweise, dass im | |
| bürgerlichen Lager die "ökonomische Vernunft" und "fiskalische | |
| Verantwortlichkeit" daheim ist. Denn er muss auch feststellen, dass ein | |
| interventionistischer Wohlfahrtsstaat, der materielle Ungleichheiten mäßigt | |
| und Lebenschancen gerecht verteilt, der dafür sorgt, dass alle aus ihrem | |
| Leben und ihren Talenten etwas machen können, nicht nur unter | |
| Gerechtigkeitsaspekten von Vorteil ist, sondern dass er auch ökonomisch | |
| einem "The Winner Takes It All"-Kapitalismus überlegen ist. | |
| Er wird auch erkennen, dass der Kapitalismus drauf und dran ist, sich | |
| selbst zu zerstören, wenn man ihm nicht klare Regeln setzt und so | |
| organisiert, dass er allen Bürgern ein Leben in Wohlstand garantiert. | |
| Kurzum, er muss feststellen, dass all das richtig ist, was heute im Grunde | |
| nur mehr von jenen gemäßigten Linken vertreten wird, die den Kapitalismus | |
| nicht abschaffen, sondern die Marktwirtschaft erst funktionsfähig machen | |
| wollen. | |
| ## Den Konservatismus retten | |
| Interessant wird sein, wie weit die "Neorenegaten" mit ihrem Kurswechsel | |
| gehen. Denn ihre Einsichten sind mit Restbeständen "bürgerlicher" | |
| Überzeugungen letztendlich nicht vereinbar. Die irre gewordenen | |
| Finanzmärkte anzuprangern ist billig. Aber werden sie am Ende so weit | |
| gehen, einzusehen, dass nur massive Umverteilung die sozialen Pathologien | |
| verringern kann, die Marktergebnisse produzieren? Sind sie, beispielsweise, | |
| nur für weniger Ungleichheit oder auch für ein egalitäres Schulsystem? Sind | |
| sie gegen die "Rettungsprogramme" für die Reichen, weil sie ihren liberalen | |
| Auffassungen von Gewinn, Verlust und Risiko widersprechen, oder sehen sie, | |
| dass diese Auffassungen selbst in einer komplexen globalen Ökonomie | |
| renoviert gehören und das Gewicht des Staates wieder zuungunsten der Märkte | |
| erhöht werden muss? | |
| Kurzum: Ein Bürgerlicher, der von sich sagt, er "beginne zu glauben, dass | |
| die Linke recht hat", der wird vielleicht nicht gleich zum "Neolinken". Er | |
| ist zunächst einmal ein Konservativer, der von der Realität überfallen | |
| wurde. | |
| Dennoch kann man die Bedeutung eines solchen, demonstrativen Akts kaum | |
| überschätzen. Denn er zieht eine Grenze zu all den Fantasten und | |
| verantwortungslosen Ideologien in seinem Milieu. Das ist gewiss keine | |
| Kleinigkeit im Für und Wider der Ideen. | |
| 20 Aug 2011 | |
| ## AUTOREN | |
| Robert Misik | |
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