# taz.de -- Alkoholismus in Russland: "Zum Mannsein gehört Trinken dazu" | |
> Mit Gott gegen den Suff: Mit Gebet, Armut und Demut trotzt der | |
> Ikonenfabrikant Michail Morosow der russischen Volkskrankheit. 18 Prozent | |
> seiner Schäflein bleiben trocken. | |
Bild: Orthodoxer Patriot: Michail Morosow mit seinem Sohn. | |
MOSKAU taz | Es ist ein paradiesisches Fleckchen. Sanfte Hügel, saftige | |
Wiesen, dichter Birkenwald und kristallklares Quellwasser. Versteckt in der | |
Idylle liegt die Siedlung Durakowo mit einigen Dutzend Häusern. Ein | |
holpriger, zerfurchter Feldweg führt bei Trockenheit in das Dorf. Regnet | |
es, verwandelt sich der Weg in knietiefen Morast. Touristen verlaufen sich | |
hierher nicht. | |
Durakowo ist das einzige Dorf, aus dem Russlands Elixier, der Wodka, auf | |
immer verbannt wurde. Wer dort hinkommt, sucht Rettung vor der Sucht. Für | |
viele Trinker und Drogenabhängige ist die Siedlung im Gebiet Kaluga, etwa | |
140 Kilometer südlich von Moskau, letzte Zufluchtsstätte vor dem Tod. | |
Der Unternehmer Michail Morosow gründete vor 17 Jahren das religiöse Stift | |
"Obitel TIL". Die Buchstaben "TIL" stehen für Geduld, Aufrichtigkeit und | |
Liebe. "Obitel", ein altes russische Wort, bedeutet Heimstatt und Kloster. | |
An die 1.000 Suchtkranke hat der Ikonenfabrikant bislang betreut: "Aber | |
längst nicht alle kuriert", sagt er freimütig. | |
Der 56-Jährige von der Statur eines Ringers ist weder Priester, noch | |
absolvierte er eine theologische Ausbildung. "Vor zwanzig Jahren war ich | |
selbst ein schwerer Trinker", sagt er. Wie die meisten in der atheistischen | |
Sowjetunion hatte er mit Religion nicht viel am Hut. | |
Der Kontakt zu einem orthodoxen Popen brachte ihn zum Glauben. "Als ich | |
ganz unten war." Morosow erzählt gern und sprudelt, wenn er Religion und | |
Lebensphilosophie miteinander verquickt. Ohne Pathos, der bei seiner | |
Klientel wohl auch nicht verfinge. | |
"Patienten" nennt er die Schutzbefohlenen respektvoll. Einmal in der Woche | |
versammelt er die Insassen in seinem Anwesen, zwanzig Minuten Fußweg von | |
Durakowo entfernt. Schon von Weitem schimmern die Rundtürme des Landsitzes | |
durch die Baumwipfel. Der Riesenbau aus Feldsteinen und weiß gekalktem | |
Mauerwerk mit Türmen, Erkern und schmiedeeisernen Toren gleicht einer | |
Kreuzung aus erzbischöflicher Pfalz und Fantasietrutzburg. Morosow hat | |
etwas von einem trockenen Exzentriker. | |
## Strenger Kodex | |
Grundlage der Therapie ist das Programm der Anonymen Alkoholiker. "Das habe | |
ich mit orthodoxen Regeln der russischen Mentalität ein wenig angepasst", | |
sagt er schmunzelnd: "Beten, Arbeiten, Disziplin und Demut." Der Kodex sei | |
streng. Für individuelle Befindlichkeiten hegt die Orthodoxie wenig | |
Verständnis. | |
Mit Sündern indes geht sie recht nachsichtig um. Auch rückfällige Patienten | |
nimmt der Fabrikant wieder auf. Je größer die Sünde, desto ergebener der | |
Reumütige, kalkuliert die praktische Philosophie der Ostkirche. Die | |
instrumentelle Einstellung zur Moral wirkte sich auch auf den Verzehr des | |
"Wässerchens" aus. Denn wer sich in Demut übte, durfte sich auch alles | |
erlauben. Das Volk zog daraus seine Lehre, lieber in Demut zu sündigen, als | |
nach Vollkommenheit zu streben. Denn das wäre mit Anstrengungen verbunden | |
gewesen. | |
Morosow stellt eine Ausnahme dar, eigentlich ist er ein Häretiker, der in | |
früheren Zeiten exkommuniziert worden wäre. Er hält nicht nur den | |
"Wodotschka" - das Wodkachen - für Teufelszeug, er hilft auch den | |
Gefallenen. Der Weltabgewandtheit der Orthodoxie ist die Sorge um den | |
Nächsten fremd. Die Kirche überließ nicht nur die Schäflein dem Spiritus. | |
Über Jahrhunderte galt die Trunksucht als Berufskrankheit des Klerus. | |
Abstinenz widersprach dem Bild eines Geistlichen. Daran hat sich bis heute | |
nicht viel geändert. Russland säuft sich zu Tode, dennoch wagt die Kirche | |
es nicht, vor dem Suff zu warnen. Kein Wunder, denn es ist die flüssige | |
Form der nationalen Identität. Und in Identitätsfragen ist die Kirche nun | |
mal eine Autorität. | |
## Orthodoxer Patriot | |
Morosow übt Abstinenz, setzt sich aber nicht dem Verdacht des Sektierertums | |
aus. Kritik an der Haltung der Kirche lässt er nicht durchgehen - | |
antirussische Spitzfindigkeiten. Er ist ein orthodoxer Patriot, der an eine | |
Mission Russlands glaubt. | |
Auch die aufrechten, sich aufopfernden Mahner wie Morosow können sich nicht | |
von dem befreien, was Sigmund Freud in seinem Essay über "Dostojewski und | |
die Vatertötung" für einen russischen Wesenszug hielt: Im Kampf zwischen | |
individuellem Triebanspruch und den Anforderungen der menschlichen | |
Gemeinschaft lande auch Dostojewski rückläufig bei der Unterwerfung unter | |
die weltliche wie unter die geistliche Autorität, vor dem Zaren und Gott | |
und bei einem engherzigen russischen Nationalismus. | |
Wer abwechselnd sündige und in seiner Reue hohe sittliche Forderungen | |
stelle, mache es sich zu bequem. Das Wesentliche an der Sittlichkeit, den | |
Verzicht, habe er nicht geleistet. Daraus erklärt sich auch Russlands Angst | |
vor und Unfähigkeit zur Analyse. | |
Staat und Kirche stritten unerbittlich um das Brenn- und Schankrecht, um | |
die eigene Kasse zu füllen. Ohne den Säuferetat hätte der Staat nicht das | |
Imperium erobern können. Bauern, die partout nicht saufen wollten -auch die | |
gab es -, wurden mit Gewalt in die Kabaken (Kneipen) getrieben. Dort | |
sollten sie sich möglichst schnell betrinken, denn zu essen gab es | |
absichtlich nichts. | |
Seither ist die Beschleunigung des Rausches von der gesellschaftlichen | |
Beschleunigung entkoppelt. Die Zwangsalkoholisierung des Volkes war nach | |
dem Zusammenwachsen von Staat und Kirche ein Gemeinschaftsprojekt, das die | |
Trunksucht zur kulturellen Norm erhob. Auch die Sowjetunion bestritt den | |
gewaltigen Rüstungshaushalt aus Wodka- und Tabaksteuer. | |
## Jegor half der Glaube | |
70 Patienten wohnen im Stift. Wer sich draußen nicht mehr zurechtfindet, | |
der darf für immer bleiben. Jegor ist schon fünf Jahre hier. Der 30-Jährige | |
lebte seit seinem 14. Lebensjahr eine Drogenkarriere. Keine | |
Therapieeinrichtung konnte ihm helfen. Jetzt sei er clean. "Ich fühle mich | |
aber noch nicht reif für die Welt", sagt Jegor, der inzwischen Morosows | |
rechte Hand ist. | |
Jegor half der Glaube, seine Mutter hätte sich aus Dankbarkeit auch taufen | |
lassen, erzählt er, während er durch den Ort führt.In einem Holzhaus bleibt | |
er vor einem Bett stehen, eine Gitarre hängt darüber, und Ikonen stehen auf | |
einem Bord. "Sergej lebte hier", sagt er. | |
Sergej war ein Knastbruder, der die jungen Süchtigen noch von einer anderen | |
Leidenschaft kurierte: der Verherrlichung des Knastlebens und der | |
Häftlingsballaden, die in Russland sehr populär sind. Die "Zone" - das | |
Lager - wird in dieser Lyrik als das kleinere Russland verklärt, eine | |
Männerwelt mit eigenen Gesetzen und stammesgesellschaftlichen | |
Trinkritualen. | |
Wo die eine Hälfte der Bevölkerung einsaß und die andere sie bewachte, | |
verwundert das nicht, Kapellen gab es in den Knästen früher nicht.Durakowo | |
ist ein Querschnitt der russischen Gesellschaft. Hier sitzt der Banker | |
neben dem Chauffeur, der Geheimdienstler neben einem Dieb, der die Hälfte | |
des Lebens im Knast zubrachte. Ein Arzt teilt sich das Zimmer mit einem | |
Moskauer Rapper. | |
Alkoholismus ist auch in Russland eine klassenübergreifende Volkskrankheit. | |
Laut Statistik sind von den 120 Millionen Menschen über 15 Jahre 7 | |
Millionen Alkoholiker. Mediziner gehen indes von weit mehr Problemtrinkern | |
aus. Nach Berechnungen der Weltgesundheitsorganisation schluckt der Russe | |
im Jahr 18 Liter reinen Alkohol, weltweit sind es im Schnitt 6,2 Liter. | |
Der bekannteste Alkoholexperte des Landes, Alexander Nemtsow, hält selbst | |
die 18 Liter für noch zu niedrig veranschlagt. Die Hälfte des konsumierten | |
Alkohols werde nicht registriert, weil der Samogon, der Selbstgebrannte, in | |
staatlichen Statistiken nicht auftauche. Die Hälfte aller Todesfälle in der | |
Altersgruppe von 15 bis 54 geht auf Alkoholmissbrauch zurück. | |
Ganze Landstriche sind ausgestorben, allein 6.000 Dörfer in den letzten | |
Jahren. "Siedlungspunkte ohne Siedler" nennen die Volkszähler sie. Wer | |
durch russische Dörfer streift, stößt oft auf die Ursache: In den Fenstern | |
stehen Plastikgläser mit einer trüben Flüssigkeit, über die ein | |
Gummihandschuh gestülpt ist. Winkt die gasgefüllte Hand endlich, ist der | |
Selbstgebrannte fertig. "Hitler-Gruß" nennt der Volksmund das. | |
Dem Mythos Wodka ist schwer beizukommen, auch weil er Elixier eines | |
lebendigen Männerkults ist. "Ich dachte, zum Mannsein gehört Trinken dazu", | |
meint auch Morosow, der seinen einjährigen Sohn auf dem Arm hält. | |
## Testosteronproduktion leidet unter Wodkakonsum | |
Der Russe trinkt sich wahrlich zu Tode: Auch Testosteronproduktion und | |
Spermatozoiden leiden unter dem Wodkakonsum, stellten Wissenschaftler | |
alarmiert fest. Nur bei der englischen Flunder, dem Nordseedorsch und der | |
Zuckerrohrkröte Floridas schrumpfe der männliche Anteil der Spezies noch | |
schneller. Die Einbußen sind nicht mehr aufzuholen. | |
TIL ist zwar kein Kloster, aber es erinnert daran. Mit Landwirtschaft, | |
Viehzucht, Autowerkstatt und Tischlerei versorgen sich die Insassen selbst. | |
Therapie und Unterbringung sind kostenlos. Ältere, die bleiben wollen, | |
geben die Rente ab. Womit der Unternehmer, außer mit Ikonen, noch Geld | |
verdient, behält er für sich. Für viele ist er Vater und Beichtvater, | |
Therapeut und einzige Stütze, fast ein Heiliger - irgendwie aber auch ein | |
Schlitzohr. Sympathisch gleichwohl. | |
18 Prozent seiner Schäflein wurden nicht mehr rückfällig. Staatliche | |
Kliniken sind nicht einmal halb so erfolgreich. "Eigentlich bräuchten wir | |
für jeden Patienten zwei Betreuer, doch es gibt nur mich und Gott", lacht | |
er. Und natürlich die Ikone der Mutter Gottes, "der unerschöpfliche Kelch", | |
die in der kleinen Kirche steht und hilft, wenn sich Verlangen meldet. | |
"Durakowo" bedeutet so viel wie "Dorf der Dummen". Der "Durak" ist indes | |
kein Idiot, eher ein Narr in Christo. Dem Dorf hat das jedoch nicht | |
geholfen. Der letzte Bewohner soff sich zu Tode, bevor Morosow das Land | |
kaufte. Im Nachlass fanden sich noch tausende Etiketten für | |
Schwarzgebrannten. | |
22 Aug 2011 | |
## AUTOREN | |
Klaus-Helge Donath | |
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